Donnerstag, 13. April 2017

Ludwig Binswanger: Psychoanalyse plus Phänomenologie ist gleich Daseinsanalyse

Ludwig Binswanger (* 13. April 1881 in KreuzlingenSchweiz; † 5. Februar 1966 ebenda) war ein Schweizer Psychiater und Psychoanalytiker.Er war der wohl bekannteste Spross der weitverzweigten Schweizer Psychiaterfamilie Binswanger. Er gehörte schon früh zu den führenden geistigen Persönlichkeiten seines Landes und gilt als Begründer der Daseinsanalyse, einer Verbindung von Psychoanalyse und Existenzphilosophie, die vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg eine bedeutende tiefenpsychologische Lehrmeinung darstellte.Dadurch hat Ludwig Binswanger einen festen Platz in der Psychiatriegeschichte des 20. Jahrhunderts gefunden. Er leitete 45 Jahre lang das 1857 von seinem namensgleichen Großvater gegründete Sanatorium Bellevue in Kreuzlingen, Kanton Thurgau, durch das er auch international bekannt wurde.
Ludwig Binswanger war in erster Linie Wissenschaftler, mehr Forscher als Therapeut, während er sich für die Arbeit in der Klinik auf die Mitarbeit ausgezeichneter Assistenzärzte verlassen konnte. Das bot Ludwig Binswanger die Möglichkeit zu ausgedehnten persönlichen und wissenschaftlichen Kontakten mit vielen der namhaftesten Denker seiner Zeit.Die Möglichkeit einer akademischen Karriere schlug Ludwig Binswanger aus. Als Arzt blieb er stets in engstem Kontakt mit der psychiatrischen Empirie. Oberste Maxime war für ihn, der anschaulichen Wirklichkeit kranker Menschen methodisch gerecht zu werden. So waren ihm die philosophischen und wissenschaftlichen Strömungen seiner Zeit in erster Linie Instrumente zur Verfeinerung der ärztlichen Empirie.Binswanger wies jede Dogmenbildung zurück. Seine Rezeption der Psychoanalyse war eine kritische, und in der zunehmenden Tendenz zur Systembildung in der Phänomenologie Husserls und Heideggers sah er rasch die wachsende Gefahr ihrer wissenschaftlichen Sterilität. (Ludwig Binswanger, Binswangers Denken, Wikipedia, abgerufen am 04.04.2017)
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Ziel Husserls ist es, die Philosophie als „erste Wissenschaft“ (Prima philosophia) zu rehabilitieren. Nach Husserl kann nur eine phänomenologische Philosophie den Vorbedingungen einer wahrlich strengen Wissenschaft genügen, weil eine naturalistische oder experimentelle Philosophie auf Vorurteilen und Existenzannahmen basiert, also sich nicht an den „Sachen selbst“ orientiert. Diese Orientierung charakterisiert die gesamte Strömung der Phänomenologie. Sie soll sicherstellen, dass sich die Wissenschaften nur von Evidenzen leiten lassen, die dem unmittelbaren Bewusstseinserleben entstammen.
Husserl stellt diesen Zusammenhang in einem Artikel in der Encyclopædia Britannica 1927 folgendermaßen dar:
„Phänomenologie bezeichnet eine an der Jahrhundertwende in der Philosophie zum Durchbruch gekommene neuartige deskriptive Methode und eine aus ihr hervorgegangene apriorische Wissenschaft, welche dazu bestimmt ist, das prinzipielle Organon für eine streng wissenschaftliche Philosophie zu liefern und in konsequenter Auswirkung eine methodische Reform aller Wissenschaften zu ermöglichen.“– Husserliana IX, 277
In diesem Artikel werden drei wesentliche Aspekte der Phänomenologie Husserls genannt:
  • Apriorität der Phänomenologie (wissenschaftlicher Anspruch)
  • Fundament für alle anderen Wissenschaften
Diese drei Aspekte sind für alle folgenden Phänomenologen verbindliche Strukturmerkmale der Phänomenologie – auch wenn sie in der Weiterentwicklung der Phänomenologie und der Wandlung der phänomenologischen Forschungsgemeinde deutlicher Kritik unterzogen wurden.

Husserls Phänomenologie ist stark beeinflusst von Franz Brentanos deskriptiver Psychologie, die ebenfalls psychische Phänomene unabhängig von den sie erzeugenden physischen Reizen beschreibt. In Abgrenzung zu einer empirischen Psychologie hatte Brentano den Begriff des intentionalen Bewusstseins gebildet. Dies ist Ausdruck der Überzeugung, dass Bewusstsein niemals ohne Bezug auf etwas ist: Bewusstsein ist immer Bewusstsein von etwas.
„Jedes psychische Phänomen ist durch das charakterisiert, was die Scholastiker des Mittelalters die intentionale (auch wohl mentale) Inexistenz eines Gegenstandes genannt haben, und was wir, obwohl mit nicht ganz unzweideutigen Ausdrücken, die Beziehung auf einen Inhalt, die Richtung auf ein Objekt (worunter / hier nicht eine Realität zu verstehen ist), oder die immanente Gegenständlichkeit nennen würden. Jedes enthält etwas als Objekt in sich, obwohl nicht jedes in gleicher Weise. In der Vorstellung ist etwas vorgestellt, in dem Urteile ist etwas anerkannt oder verworfen, in der Liebe geliebt, in dem Hasse gehasst, in dem Begehren begehrt usw. Diese intentionale Inexistenz ist den psychischen Phänomenen ausschließlich eigentümlich. Kein physisches Phänomen zeigt etwas Ähnliches.“– Psychologie vom empirischen Standpunkte, 1874, S. 124
 Diese trivial anmutende Entdeckung ebnet den Weg zu einem der grundlegenden philosophischen Probleme – der Spaltung der Welt in Subjekt und Objekt. Auf Grundlage des intentionalen Charakters des Bewusstseins konnte dieses Problem aus einer neuen Perspektive bearbeitet werden.
Auch Brentano ging davon aus, dass sich die Grundlagen der Logik nicht in einer naturalistischen Psychologie begründen lassen. Husserl greift diesen Aspekt auf und weitet diesen Gedanken der deskriptiven Psychologie Brentanos aus zu einer transzendentalen Phänomenologie, welche die Möglichkeiten von Bewusstseinsakten überhaupt erklären will.
(Phänomenologie, Phänomenologie Husserls, Wikipedia, abgerufen am 04.04.2017)

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Die Daseinsanalyse ist eine der Psychoanalyse nahestehende psychiatrische und psychotherapeutische Richtung, die der phänomenologischen Methode folgt und sich philosophisch vor allem an Martin Heidegger orientiert.
Die Daseinsanalyse wird wegen ihrer philosophischen Kritik am psychoanalytischen Naturalismus oft den humanistischen Richtungen der Psychotherapie zugeordnet. Das trifft aber nur ganz bedingt zu, weil vor allem die heutige Daseinsanalyse die grundlegenden Entdeckungen Freuds aufnimmt und existenzphilosophisch interpretiert.
Die Daseinsanalyse ist in den 1940er Jahren aus der Psychoanalyse entstanden. Sie wurde von Ludwig Binswanger (1881–1966) und Medard Boss (1903–1990) begründet, die je eine unterschiedliche Auffassung von Daseinsanalyse entwickelten. Beide waren als Psychiater und Psychoanalytiker ausgebildet. Anders als C.G. Jung oder Alfred Adler kritisierten Binswanger und Boss nicht bestimmte Inhalte der psychoanalytischen Theorie, sondern ihre philosophisch-anthropologischen Grundlagen.
Der Name „Daseinsanalyse“ stammt aus der Philosophie Martin Heideggers, der in seinem Hauptwerk Sein und Zeit den Menschen als „Dasein“ bezeichnet hat.
Die Daseinsanalyse umfasst also zwei voneinander unabhängige Richtungen: die von Binswanger begründete psychiatrische Daseinsanalyse und die von Medard Boss begründete psychotherapeutische Daseinsanalyse, die auch als „Zürcher Schule der Daseinsanalyse“ bezeichnet wird.

Binswangers Hauptanliegen galt der Psychiatrie selber. Er wollte ihren Status als bloßes Konglomerat psychiatrischer Einzeldisziplinen überwinden und die Psychiatrie als einheitliche Wissenschaft begründen. Eine einheitliche Wissenschaft aber kann die Psychiatrie nach Binswanger nur dann werden, wenn sie sich auf ein philosophisch geklärtes Menschenbild gründet.[1] Dieses Menschenbild explizierte er in seinem theoretischen Hauptwerk Grundformen und Erkenntnis menschlichen Daseins, das 1942 erschien.[2] Das menschliche Dasein wird dort in kritischer Anlehnung an Martin Heideggers Rede vom In-der-Welt-sein als In-der-Welt-über-die-Welt-hinaus-sein bezeichnet.
Nach 1942 entwickelte Binswanger eine eigene daseinsanalytische Methode zur Erforschung von Geisteskrankheiten. Sie basiert auf dem Begriff des Weltentwurfes. Diese Methode verbindet phänomenologische, strukturelle und hermeneutische Elemente; sie ist am reinsten in der berühmten Schizophrenie-Studie Ellen West (1944/45)[3] angewendet. Das Revolutionäre der Methode zur Erforschung der Weltentwürfe geisteskranker Menschen liegt darin, dass sie nicht untersucht, was dem psychisch Kranken im Vergleich zum Gesunden fehlt, sondern in welcher besonderen Welt er existiert: „Es sind die Weltentwürfe, die den geisteskranken Menschen vom Gesunden unterscheiden“.[4] Die Daseinsanalyse Binswangers bildet bis heute eine wichtige Denkrichtung innerhalb der Psychiatrie und seine Studien zur Schizophrenie gehören zu den klassischen psychiatrischen Schriften.
Gegen Ende seines Lebens (1958–1965) kehrt Binswanger unter dem Einfluss des Freiburger Philosophen Wilhelm Szilasi wieder zur Phänomenologie Edmund Husserls zurück. An die Stelle der hermeneutisch-strukturellen Analyse von Weltentwürfen tritt die exakte deskriptive Erfassung krankhafter Veränderungen im Aufbau der Bewusstseinsleistungen. Die beiden Werke dieser nach-daseinsanalytischen Phase sind Melancholie und Manie (1960) und Wahn (1965).[5] [Daseinsanalyse, Zur Geschichte der Daseinsanalyse, Wikipedia, abgerufen am 04.04.2017)
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Von der Psychoanalyse über die allgemeine Psychologie zur Daseinsanalytik

Binswanger war ein tiefer und genauer Denker, weshalb es ihm nicht entgehen konnte, daß die philosophisch-psychologische Basis der Psychoanalyse eigentümlich schmal konzipiert war. Freud hatte sich mit dem Elan des genialen Entdeckers seine „Psychologie” selbst zurechtgezimmert; er holte sich die Grundbegriffe seiner Psychoanalyse aus der psychologischen Fachliteratur der Epoche ( um 1900), ohne im Detail zu überprüfen, welche „Vorannahmen” und „Vorurteile” in diesen Begriffen steckten.
So wissen wir heute, daß sich Freud mit einem gewissermaßen blinden Vertrauen vielen materialistischen Dogmen und Denkweisen verschrieb, die dem Forschungsgegenstand „Seelenleben” keineswegs adäquat sind. Er schuf seine konsequent-naturwissenschaftliche Psychologie, die von der Idee eines „seelischen Apparates” ausgeht, eine seelisch-sexuelle Energie im Sinne einer nahezu quantifizierbaren Kraft postuliert (Libido) und in der Sexualität das A und O des Psychischen zu begreifen glaubt. Diese Pseudo-Naturwissenschaft, die in der „Metapsychologie” eine Verallgemeinerung erfuhr, zerlegt die menschliche Persönlichkeit in mehrere Teile und Teilstrukturen (Ich, Es und Über-Ich), die als relativ unabhängig voneinander gelten; auch spekuliert sie über ökonomische, dynamische und topische Veränderungen in der Seelen-Apparatur, die angeblich dem Kausalprinzip unterworfen sein soll, ,,wie die übrigen Naturtatsachen”. Dies führt zu manchen theoretischen und praktischen Komplikationen der Psychoanalyse, die trotz ihrer Lebensnähe durch solche Konstruktionen eigentümlich realitätsfremd wurde.
Binswangers großer Gelehrsamkeit und Scharfsichtigkeit konnten diese Oberflächlichkeiten nicht entgehen; er sah, daß Freud die menschliche Seele teilweise wie ein „Naturding” und teilweise wie ein „Subjekt” beschrieb. Woran sollte man sich da halten? Wenn der Mensch wesensmäßig Person, Persönlichkeit und Ich ist, dann darf man ihn nicht als Triebwesen und Libido-Maschinerie analysieren: man muß ihn als strebendes, handelndes und ganzheitliches Dasein untersuchen. Um die Idee der „menschlichen Personalität” mit der Psychoanalyse zu konfrontieren, verfaßte Binswanger sein umfangreiches Buch Einführung in die Probleme der allgemeinen Psychologie, das auf 380 Druckseiten die psychologischen Theorien der gesamten Fachliteratur durcharbeitet.
Die Frage Binswangers ist, ob eine naturwissenschaftliche Darstellung des Psychischen möglich, wünschbar und praktisch nützlich sein kann. Er geht weit in die Tradition zurück – bis auf Immanuel Kant – und legt dar, daß das „Freie und Schöpferische im Seelenleben” seit jeher offen oder insgeheim von den Forschern anerkannt worden ist. Die Assoziations- und Vermögenspsychologie des 19. Jahrhunderts versuchte zwar eine quasi-mechanische Konstruktion der Menschenseele; aber ernstzunehmende Denker wie Bergson, Dilthey, Natorp u. a. zeigten mit unwiderlegbarer Klarheit, daß jegliche Seelenmechanik zum Scheitern verurteilt ist. Meistens werden die seelischen Kräfte und Potenzen, die von den Naturwissenschaftlern des Seelenlebens eingeführt werden, auf Umwegen personifiziert, d. h., man legt ihnen die Eigenschaften eines Ichs oder einer Person zu, wodurch dann die Psyche zum Tummelplatz vieler Teil-Psychen wird. Diesem „Konstruktivismus” ist nur zu begegnen, wenn man in jeder Lebensäußerung die Person in ihrer Ganzheit sieht und begreift.
Im Anschluß an Bergson, Dilthey, Scheler u. a. wendet sich Binswanger auch gegen das Bestreben, Seelisches kausal erklären zu wollen, d. h. es in das Ursache-Wirkungs-Schema einzuspannen, das sich in Physik, Chemie, Biologie etc. so hervorragend bewährt hat. Ist die Persönlichkeit des Menschen – im Rahmen ihrer vielfältigen Bedingungen – frei und schöpferisch, dann muß sie mit dem Hilfsmittel des Verstehens angegangen werden, welches seit Dilthey allemal für das Nachvollziehen von Sinngebilden reserviert bleibt. Freud war nach Binswanger – ohne es zu wissen und zu wollen – ein Meister in der Kunst des hermeneutischen Verstehens; er verwendete entgegen seiner naturwissenschaftlichen Überzeugung andauernd die geisteswissenschaftliche Methode, die durch Droysen, Boeckh, Dilthey so reichhaltig bestimmt worden ist. Schon Schleiermacher beschrieb sehr eindrücklich das Verfahren des hermeneutischen Zirkels, d. h. jener Verstehensbemühung, die vom Teil zum Ganzen und vom Ganzen zu seinen Teilen kreist; des weiteren liegt in dieser Zirkelerkenntnis, daß der Verstehende sein Objekt im wachsenden Maße klärt, hierbei aber immer auch einen Prozeß der Selbstklärung vollzieht. Was die Hermeneutiker seit Jahrhunderten in vielen Bereichen der Humanwissenschaften sorgfältig beschrieben haben, spielt sich praktisch auch in der psychoanalytischen Behandlung ab, die daher eher eine hermeneutische Operation als ein naturwissenschaftliches Erklären aus konstruktiven Denkmodellen ist.
Binswangers Allgemeine Psychologie kulminiert daher in einem Kapitel über Das fremde Ich und die wissenschaftliche Darstellung der Person (l. c. S. 223 f.). Darin werden Dilthey und Scheler als hauptsächliche Repräsentanten einer modernen Verstehenstheorie in Betracht gezogen. Allerdings umfaßt das Verstehen sehr viele Bereiche, in denen es jeweils andere Formen und Verfahrensweisen beanspruchen muß. So ist etwa das Verstehen eines Menschen nicht gleichzusetzen mit dem Verstehen von menschlichen Schöpfungen wie z.B. Kunstwerken, philosophischen und literarischen Texten usw. Ein geübter Menschenkenner vermag etwa aus seiner Lebenspraxis heraus andere Menschen schnell und richtig zu durchschauen; dies bedeutet aber keineswegs, daß er auch ein gutes Gespür für das Interpretieren von Kulturwerten und –lei-stungen haben muß. Für den Psychotherapeuten jedoch wird es sehr zweckmäßig sein, wenn er sich in der Kunst des Verstehens realer Menschen und idealer Geistesprodukte übt; denn der therapeutische Umgang mit seelisch kranken Persönlichkeiten erfordert Einblick in alle Sphären des menschlichen Daseins, die von Situation zu Situation ihre wechselnde Thematisierung erfahren.
Binswanger ist im genannten Text der Meinung, daß die Psychologie und die Psychoanalyse nicht ohne den Begriff der Person auskommen können, d. h. der Annahme der Einheit und Ganzheit des Menschen, die sich in allen seinen partiellen Lebensäußerungen dokumentiert. Die Person ist aber nicht als ein isoliertes Ich zu denken; sie lebt vornehmlich in ihren Ich-Du-Beziehungen, sodann aber auch in ihrer Teilhabe an den überpersönlichen Wesenheiten der Kultur, also z.B. Geschichte, Kunst, Erziehung, Ethos, Gesellschaft u. a. m. Daher muß die psychologische Forschung in einer universellen Kultur- und Geisteswissenschaft verankert werden; andererseits bedürfen die Kultur- und Geisteswissenschaften einer psychologischen Fundierung. Mit diesem Programm, das er selbst nicht einzulösen vermochte, schließt Binswanger seine Allgemeine Psychologie, die auch als Torso ein bewundernswertes Werk ist, dessen Gedankenreichtum teilweise überwältigend wirkt.



Husserl, Heidegger und Binswanger

Binswanger begann seine Forschungen bei Bleuler und Freud, geriet aber bald in den Einflußbereich von Husserl und Heidegger, die für sein eigentliches Lebenswerk von höchster Bedeutung sind. Es ist für das Verständnis der Daseinsanalyse unentbehrlich, einen Blick in die Gedankenwelt dieser beiden Denker zu werfen.
Edmund Husserl (1859-1938) gilt als einer der größten Philosophen des 20. Jahrhunderts. Er war ursprünglich ein Schüler von Franz Brentano, der an der Universität Wien Psychologie und Philo­sophie lehrte. In seinem bedeutenden Werk Psychologie vom empirischen Standpunkt (1874) lehrte Brentano u. a., daß Bewußtseinsvorgänge vor allem durch das Merkmal der „Intentionalität” gekennzeichnet seien: Bewußtsein ist immer „Bewußtsein von etwas”, d. h., es ist „gerichtet” auf seinen Gegenstand. Damit war ein Unterscheidungsmerkmal zwischen Physischem und Psychischem gegeben, das in der Epoche des Materialismus und Positivismus – die beide die Seele der materiellen Dingwirklichkeit angleichen wollten – von wesentlicher Tragweite war.
Husserl, später auch von Wilhelm Dilthey stark beeinflußt, eröffnete in seinen Logischen Untersuchungen (1900) den entschiedenen Kampf gegen den sogenannten „Psychologismus”, d. h. jene materialistisch-positivistische Lehre, die geistige Gegenstandsbereiche (z.B. die Logik) auf psychische Ursprünge und psychologische Gesetzmäßigkeiten zurückführen wollte. Die Sphären der Vernunfttätigkeit sind relativ unabhängig von den seelischen Gegebenheiten, mit denen sie natürlich im Zusammenhang stehen; es bedarf aber besonderer intuitiver Analysen, um eine „Psychologie der leistenden Vernunft” zu schaffen.
Diese neue philosophische Methode nannte Husserl „Phänomenologie”: sie wurde zur wichtigsten philosophischen Schulrichtung im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts. Der Kampfruf dieser Schule lautete: zu den Sachen! Damit wollte Husserl eine neue Ära der Forschung in der Philosophie einleiten. Man sollte nicht mehr „wild” im Sinne einer „Einheitsmetaphysik” (z.B. des Materialismus) draufloskonstruieren sozusagen die Phänomene in das Prokrustesbett einer vorgefaßten Theoriekonzeption hineinzwängen. Was not täte, wäre der Einblick in die verschiedenartigen Seinsstrukturen der Gesamtwirklichkeit, die jeweils verschiedene Formen der Aufweisung und Erkenntnisbemühung erfordern. So ist die materielle Dingwelt eine spezielle „ontologische Region”, die man gemäß den Regeln und Verfahrensweisen der Naturwissenschaft bearbeiten kann; Bewußtsein aber und die Produkte menschlicher Geistestätigkeit (z.B. Kunst, Wissenschaft, Philosophie, Religion, gesellschaftliche Lebensformen usw.) sind andere Zonen der Wirklichkeit, die man „exakt-wissenschaftlich” weder beschreiben noch erklären kann.
Mit besonderer Intensität wandte sich Husserl der Bewußtseinsanalyse zu, so daß viele seiner Texte wie eine Art von „Erkenntnistheorie” anmuten. Die intentionalen Akte des Bewußtseins­lebens sind aber nur eine Vorstufe zu ontologischen Zielsetzungen: Husserl hatte auch eine „Seinslehre” im Sinn, wenn er mit mikroskopischer Genauigkeit die subtilsten Details der menschlichen Geisteswelt erforschte. Trotz der genauesten Kenntnis der gesamten philosophischen Tradition des Abendlandes war Husserl bestrebt, ein „radikal neu anfangender Denker” zu sein: er und seine Schüler wollten die Philosophie als strenge Vernunftwissenschaft aufbauen, d. h. mit grandiosem Impetus die uralten philosophischen Probleme aufs neue stellen und beantworten.
Es ist hier nicht der Ort, Husserls Phänomenologie zu erläutern, die in der Philosophie selbst und in allen Geisteswissenschaften bedeutende Umwälzungen eingeleitet und ermöglicht hat: die Psychologie, die Literatur- und Kunstwissenschaft, die Geschichtsschreibung, die Soziologie, die Ethik, die Rechtswissenschaft und viele andere Disziplinen verdanken Husserl und seinen Schülern tiefgreifende Grundlagendiskussionen, die allemal die Forschungsmethoden veränderten und verfeinerten. Vor allem die Besinnung auf das Wesen des Menschen ist der phänomenologischen „Analysenkunst” sehr verpflichtet; Husserls Lebenswerk drang in viele Versuche der philosophischen Anthropologie ein, die ihrerseits wiederum die Spezialwissenschaften befruchteten.
Noch stärker beeinflußte Binswanger das philosophisch-anthropologische Denken des Husserl-Schülers Martin Heidegger (1889-1976), dessen Hauptwerk Sein und Zeit (1927) das Fundament zur modernen Existenzphilosophie legte. Heidegger wandte die phänomenologische Methode auf die Analyse des menschlichen Daseins an, welche für ihn „Fundamentalontologie” wurde: das Aufweisen der Seinsstrukturen der menschlichen Existenz gilt ihm als unabweisliche Vorarbeit für jede Seinslehre überhaupt, da der Mensch das Wesen ist, welches die Seinsfrage stellt und auch stellen muß. In eigenwilliger Sprache beschreibt Heidegger alle Kategorien des Menschseins, die er „Existenzialien” nennt; so weist er als Strukturen der Existenz auf: das In-der-Welt-Sein, das Man-selbst-Sein, das eigentliche Ich-selbst-Sein, die Angst, die Sorge, das Verstehen, die Befindlichkeit, das Sein zum Tode u. a. m.
Binswanger feierte in Heidegger den großen Reformator der Philosophie und Humanwissenschaften, der ihm auch fast wie ein Kopernikus der Psychiatrie, der Psychoanalyse und der Psychotherapie erschien.


Der Mensch und die Liebe

Als Frucht seiner intensiven Beschäftigung mit Heidegger, Husserl und der gesamten philosophisch-literarischen Tradition des Abendlandes legte Binswanger im Jahre 1942 sein zweites Hauptwerk – Grundformen und Erkenntnis des menschlichen Daseins – vor. Auf ca. 700 Druckseiten entwickelt er seine daseinsanalytischen Konzeptionen, die die Gedankengänge von Sein und Zeit abwandeln, aber sichtlich stets im Einflußbereich von Heideggers Ideenwelt verbleiben.
Heidegger schilderte das Dasein als einsames, sich ängstigendes Sich-Entwerfen auf das ureigenste Schuldigsein, als Vorlaufen zum Tode als der äußersten Möglichkeit des Lebens und als radikales Entschlossensein, das bezüglich seiner selbst in der Sorge lebt und dem Mitmenschen lediglich die Beziehungsform der Fürsorge anzubieten hat. Binswanger war zutiefst beeindruckt von der „Felsenmelodie“ dieses heroischen Philosophierens, vermißte aber in Heideggers Existenzanalyse die Daseinsgestalt der Liebe, die für ihn zum Angelpunkt seiner philosophischen Anthropologie werden sollte. So sagt er im Vorwort seines Buches, daß dieses auch den Titel „Die anthropologischen Grundlagen der psychologischen Erkenntnis“ hätte tragen können; es geht ihm offenbar darum, die Liebe als zentrale Erkenntnisfunktion in den Humanwissenschaften und im Leben überhaupt darzustellen, wobei er der Meinung ist, daß das Verstehen des Mit- und Nebenmenschen und die Selbsterkenntnis nur auf dem Fundament des Liebenkönnens gedeihen. Der Psychologe und Psychotherapeut muß in sich die „Kunst des Liebens“ entfalten, ansonsten wird ihm sein Beruf ein „Buch mit sieben Siegeln“ bleiben.
Soviel auch die Menschen von der Liebe reden, ist sie doch philosophisch und wissenschaftlich eines der ungeklärtesten Probleme der menschlichen Existenz. Binswanger untersucht das Liebesphänomen in Abhebung von Heideggers fundamental-ontologischen Analysen – sein Werk ist gewissermaßen die Ergänzung des Heideggerschen Textes in Richtung auf eine Daseinsanalytik des „liebenden Miteinanderseins“. So haben Liebende z.B. nicht die Räumlichkeit der Dingwelt, wo sich etwa „hart im Raume die Dinge stoßen“ und ein Ding dem anderen seinen Platz streitig macht: wo A ist, kann nicht B sein, und umgekehrt. Ähnlich ist auch das Verhältnis der Menschen zueinander innerhalb der alltäglichen Praxis; jeder will jeden von seiner Örtlichkeit wegdrängen, um sich an seinen Platz (Rang, Besitz, Status usw.) zu setzen. Bei wahrhaft Liebenden jedoch fällt dieses Konkurrenzverhalten weg. Sie sind froh, am gemeinsamen Ort zu sein, der für sie stets auch eine Heimat ist. Auch die Zeitlichkeit der Liebe ist nicht diejenige von Heideggers „Dasein“, das angesichts des zukünftigen Todes tapfer von Augenblick zu Augenblick schreitet und in der Gegenwart jeweils handelnd Vergangenheit und Zukunft gewaltsam zusammenbündelt. Wer liebt, empfindet im Augenblick die Ewigkeit, d. h., er ist zwar in der Zeit, aber auch „über die Zeit hinaus“.
Dasselbe gilt für das In-der-Welt-Sein, welches bei Heidegger die grundlegende Kategorie des menschlichen Daseins ( ein „Existenzial“) ist. Der Mensch außerhalb der Liebe ist von der Welt umfangen, von ihr bedrängt und sozusagen ganz eingenommen. Nicht so der Liebende: Er ist mit seinem Liebespartner sowohl „in der Welt“ als auch „über die Welt hinaus“, so daß er sich in einer eigentümlich schwebenden Position befindet, die Freiheit, Selbstgestaltung und Schöpfertum ermöglicht.
Für Binswanger wird die Liebe zum untersten oder obersten Existenzial, aus dem sich alle anderen Existenzweisen herleiten lassen: je nach Anwesenheit oder Abwesenheit des Liebenkönnens strukturiert sich die Welterfahrung des Menschen; die Welt der Liebe und die Welt der Lieblosigkeit sind die beiden Pole, zwischen denen unser Dasein zu pendeln pflegt, und je mehr es sich dem Pol des Liebesmangels annähert, um so stärker treten pathologische und ängstlich-destruktive Lebensvollzüge in den Vordergrund. Alle Lebensgeheimnisse enthalten die Thematik von Ich und Du, die naturgemäß auch in die Thematik von Ich und Wir eingefügt ist. So ist Sprache ein Teilstück des liebenden Miteinanderseins, und Spracharmut ein Zeichen dafür, daß ein Mensch nicht in die Dimension der Liebe hineingewachsen ist. Nur wenn der Mensch in seiner Kindheit lieben lernt, wird er zum Menschen; alle Zerrformen des menschlichen Existierens müssen auf dem Hintergrund in sich verkapselter Persönlichkeiten gesehen werden, die unter dem Druck von Angst in sich selbst eingeschlossen blieben und daher nicht ins Offene der Wir-Welt hineinzugelangen vermochten.
Diese Thesen belegt Binswanger mit einer Literaturkenntnis, die weithin überwältigend wirkt. Er kann u.a. zeigen, daß Hegel in seinen Jugendschriften bereits ähnlich gedacht hat; er verfolgt auch die geistesgeschichtliche Linie der Jung-Hegelianer, die aus der Hegelschen Apotheose der Liebe sehr reale Konsequenzen zu ziehen versuchten, indem sie die Möglichkeit menschlicher Liebesverhältnisse in einer Welt der Herrschaft und Unterdrückung sehr in Frage stellten. Noch wichtigere Dokumentationen für eine Phänomenologie der Liebe jedoch findet Binswanger bei den großen Liebesdichtern (Goethe, Rilke, Shakespeare, Robert und Elizabeth Browning u. a.), die die Wesensverfassung des liebenden In-der-Welt-Seins oft mit unübertrefflicher Sprachgewalt zu formulieren wußten.
All dies muß nach Binswanger zu einer grundstürzenden Revolution innerhalb jeglicher „Daseinserkenntnis“ werden. Wir huldigen immer noch dem objektivistischen Erkenntnisideal der Naturwissenschaften und meinen, daß Selbsterkenntnis und Erkenntnis des Fremd-Ichs in ähnlicher Weise gewonnen werden können wie in der Naturforschung, wo sich ein erkennendes Subjekt einer Welt von Objekten gegenüberbefindet. Ein äußerstes Beispiel einer solchen sich selbst mißverstehenden „Naturforschung der Psyche“ ist die Psychoanalyse, die aber – durch ihren gewaltigen Erkenntniselan getrieben – schon wiederum über diese naturwissenschaftliche Einseitigkeit hinauswuchs und nolens volens in den Bereich des liebenden Verstehens (Probleme der Übertragung und Gegenübertragung, hermeneutische Interpretation von Fakten innerhalb einer Gesamtschau des Lebens der Patienten usw.) hineinwuchs. Von Mensch zu Mensch bedeutet lieben und erkennen etwas Identisches; man kann den Mitmenschen nur begreifen, sofern man seine eigene Liebesfähigkeit steigert, und man versteht sich selbst besser, wenn man in Daseinsverhältnissen der Liebe lebt und agiert. Dies hat Goethe wie kaum ein anderer in tausendfältigen Äußerungen zum Ausdruck gebracht, wobei er sogar so weit ging, daß er alle übrigen Wissenschaftsbestrebungen nur durch den „liebenden Blick“ gewährleistet sah. In neuerer Zeit haben Max Scheler, Henri Bergson und teilweise auch Husserl den Zusammenhang von Liebe und Erkenntnis zumindest gestreift, wenn nicht gar explizit ausgesprochen; innerhalb der Phänomenologie wurde die „liebende Intuition“ oft genug als Erkenntnisorgan gepriesen.
Da Binswanger sich darüber im klaren ist, daß das Verstehen unter Menschen nicht nur ein Ich-Du-Verhältnis allein ist, sondern stets im Medium einer Kulturwelt (Gesellschaft, Sprache, ,,objektiver Geist" im Sinne von Hegel usw.) stattfindet, sucht er nach einer philosophischen Verankerung seines Verstehensbegriffes, der die Hermeneutik unter weitestem Horizont in sich fassen soll. So gelangt er gegen Ende seines Werkes zu Wilhelm Dilthey, der schon in Heideggers Sein und Zeit Ausgangs- und Endpunkt der „Analytik des Daseins" ist. Tatsächlich enthält Diltheys Philosophie noch ungehobene Schätze einer universalen Anthropologie, die den Menschen als Natur- und Kulturwesen sinnvoll interpretieren kann. In sehr weit ausholenden Darstellungen referiert Binswanger die Diltheysche Lebensphilosophie und „Kritik der historischen Vernunft", um letztlich wieder zu seinem Refrain zurückzukehren, daß man die Fragen nach dem Wesen des Menschen zwar wissenschaftlich stellen, sie aber liebend beantworten muß. Wie eine solche anthropologische Liebeswissenschaft im Detail auszusehen hat, wird nicht sehr deutlich - wie denn überhaupt dieses Buch Binswangers sehr viele dunkle und undurchsichtige Stellen enthält, da der Autor an zahlreichen Punkten bis an die Grenzen des Sagbaren vorstößt und vielleicht mitunter den Fehler begeht, daß er von den Dingen nicht schweigt, über die man nicht sprechen kann.
Denkt man an jene Leser, die nicht mit dem Heideggerschen Jargon und der Husserlschen Sprachsubtilität vertraut sind, so kann man sich deren Verwirrung ausmalen, wenn sie Grundformen und Erkenntnis des menschlichen Daseins zur Hand nehmen. Das Buch ist ein großer Wurf, aber es ist ein sehr schwer lesbarer Text, der die Großartigkeit der Liebe in der abstrakten Melodie der Gelehrsamkeit verkündet.
(aus: Joseph Rattner, Klassiker der Psychoanalyse, Beltz, 1995, S. 634ff.)

siehe auch:

- Traum und Existenz (Ludwig Binswanger, gefunden bei: Goethe-Universität, Frankfurt, PDF)
- Einführung zu „Traum und Existenz“ von L. Binswanger (Michel Foucault, 1954, in: Schriften I, hg. von Daniel Defert und François Ewald, Frankfurt a.M. 2001, S. 107-174., gefunden bei: Die Macht der politischen Entscheidung, PDF)
Persönlichkeitstheorien – Ludwig Binswanger (C. George Boeree, Originaltitel: Personality Theories, ©1997, PDF, zu finden auf www.social-psychology.de)
- Gibt es eine leibliche Persönlichkeitsstruktur? – Ein phänomenologisch-psychodynamischer Ansatz (Thomas Fuchs, ©Schattauer, 2006, PDF)
- Marianne Leuzinger-Bohleber im Gespräch mit Jochen Kölsch (2006) (Bayern alpha, Download-Möglichkeit, PDF)

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