Mittwoch, 2. März 2016

Die drei Geistesgifte als Motor des Lebensrades


Drei Geistesgifte
Drei Geistesverschmutzungen oder Drei Wurzeln des Unheilsamen (skt./pali mūlatib.dug gsum) ist ein wichtiger Begriff der buddhistischen Ethik und fasst die drei schädlichen Eigenschaften Gier, Hass und Verblendung zusammen. Der Begriff "Geistesverschmutzungen" deutet auf die grundsätzliche Reinigungsfähigkeit bzw. ursprüngliche Andersartigkeit des Geistes hin.

  • Gier (pali lobha, tib. ’dod chags), auch als Sucht oder Begierde übersetzt, ist das Haben- und Besitzenwollen, das Bestreben, auf jeden Fall und um jeden Preis zu existieren. Mit Gier verwandt sind die Leidenschaften heftiges Begehren (raga) und "Durst" nach Werden (tanha). Heilsam (kosala) wirken Großzügigkeit und Mildtätigkeit (dāna).
  • Hass (pali dosa, skt. dvesa), auch als Zorn oder Aggression übersetzt, ist die Selbstbehauptung eines illusionären Selbst den Mitwesen gegenüber. Heilsam wirkt Güte (metta).
  • Verblendung (moha), Unwissenheit (skt. avidya) und Nicht-Wissen sind weitestgehend deckungsgleiche Begriffe. Die Unwissenheit ist ein Zustand, der als Grundursache für alles erfahrene Leid angesehen wird. Die beiden anderen Geistesgifte folgen der grundlegenden Unwissenheit. Nicht-Wissen ist die Grundlage allen karmisch-kausalen Handelns. Es bedeutet, die Wahrheit(en) über die Natur des Geistes nicht zu kennen. Ist die Verblendung/Unwissenheit/das Nicht-Wissen gereinigt, erscheint der heilsame Aspekt im Geist: Weisheit (pañña).
In der buddhistischen und hinduistischen Literatur werden auch noch andere Geistesverschmutzungen (p. kilesa, skr. kleśa) genannt und in Listen unterschiedlicher Länge und Zusammenstellung kombiniert. (Siehe Klesha).Das Gegenstück zu den drei Wurzeln unheilsamer Handlungen, sind die drei Wurzeln heilsamer (kusala) Handlungen: Gierlosigkeit (alobha), Hasslosigkeit (adosa), Unverblendetheit (amoha).Bezogen auf die Geisteshaltung bedeuten die 3 Geistesgifte:
  • Unwissenheit - Gleichgültige Geisteshaltung
  • Gier - Anhaftende Geisteshaltung
  • Hass/Aggression - Ablehnende Geisteshaltung
Das Gegengift ist in jedem Fall "Liebe und Mitgefühl" (Drei Geistesgifte, Wikipedia)
Lebensrad; Quelle: Buddhistische Symbole (Homepage Michael Reinold)

Das Rad des Werdens ist die Darstellung des leidhaften Wiedergeburtenkreislaufs (Samsara), aus dem Befreiung zu finden jedermann bemüht sein sollte. Es gehört zu den ältesten Bildtypen der buddhistischen Malerei. Es ist die altindische Vorstellung vom Wirken des Karma, die im Bild des Lebensrades symbolisch veranschaulicht ist.
An Tempeln schmückt es meist die Außenwand der Vorhalle. Bevor der Gläubige den Tempel betritt fällt sein Blick auf das Lebensrad und dieses fordert ihn auf, sein Leben zu ändern. Im Lebensrad erkennt er sich selbst, es ist ein Spiegel, ein verschlüsselter Ausdruck seines Unbewussten. Wer den Tempel betritt, schreitet sinnbildlich durch die samsarische Welt hindurch in die Erlösung; die Meditation über das Bhavacakra kann eine Vorübung zur Selbstverwirklichung sein. Auch der des Lesens Unkundige kann durch das Lebensrad die Lehre Buddhas in sich aufnehmen. (Lebensrad, Wikipedia) 
Erster Kreis (Radnabe)
Der innere Kreis; Quelle: Das buddhistische Lebensrad (Gesar-Travel)

Hahn, Schlange und Schwein jagen sich im Zentrum des Rades. Sie symbolisieren[1] die Drei Wurzelgifte:

  • Hahn: Gier (Prinzip der Anziehung)
  • Schlange: Hass (Prinzip der Abstoßung)
  • Schwein: Verblendung (Prinzip der eingeengten Sichtweise)
Ein weiteres System zeigt im Zentrum des Rades ein Schwein als Bild der Unwissenheit, eine Taube als Bild der gierigen Anhaftung und eine Schlange als Bild des Zorns.[2][3]Diese drei Wurzelgifte binden nach der Weltanalyse des Buddha die Wesen an den Wiedergeburtenkreislauf (Samsara). Allein durch die Überwindung und Vernichtung dieser Kräfte ist es möglich, dem Samsara zu entrinnen und die Erlösung (Nirwana) zu erreichen. (Erster Kreis (Radnabe), Wikipedia)
Zweiter Kreis
Im angrenzenden Ring wird in der rechten, dunklen Hälfte der karmische Abstieg, in der linken, hellen der karmische Aufstieg angedeutet. [4]Üble Taten begehen oder dem Dharma folgen und Gutes tun, zwischen diesen beiden Möglichkeiten hat jeder zu wählen.
 (Zweiter Kreis, Wikipedia) 

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Weit davon entfernt, ein mystischer Rückzug aus den komplexen Gegebenheiten der mentalen und emotionalen Erfahrung zu sein, erfordert der buddhistische Ansatz, daß sich die ganze Psyche dem meditativen Bewußtsein überläßt. An dieser Stelle ist die Überschneidung mit der Psychotherapie am offenkundigsten. Meditation ist nicht weltverleugnend; das Innehalten, das sie erfordert, steht im Dienst einer näheren Erforschung des Alltagsbewußtseins. Diese Erforschung ist per definitionem psychologischer Natur. Ihr Ziel ist es, die wahre Natur des Selbst zu ergründen und die Produktion selbstgeschaffenen mentalen Leidens zu beenden. Es ist ein Anliegen, dem sich verschiedene Schulen der Psychotherapie unabhängig voneinander gewidmet haben, häufig ohne sich der übergreifenden Methodik der buddhistischen Psychologie des Geistes zu bedienen. Solange der Buddhismus als ein mystisches oder auf das Jenseits gerichtetes Streben, als eine für westliches Denken unverständliche exotische Angelegenheit, als ein spirituelles Anliegen ohne große Relevanz für unsere komplizierten neurotischen Beziehungen galt, konnte er vom Mainstream psychologischen Denkens ferngehalten werden, seine Einsichten ließen sich im Fach »esoterische östliche Philosophie« deponieren. Der Buddhismus enthält jedoch eine wesentliche Lehre für heutige Psychotherapeuten: Vor langer Zeit schon hat er eine Technik, dem menschlichen Narzißmus entgegenzutreten und ihn zu beseitigen, perfektioniert, ein Ziel, das die westliche Psychotherapie erst in letzter Zeit in Betracht zu ziehen beginnt.
[…] 
Mit den Jahren wurde die Psychotherapie immer differenzierter und auf immer mehr Gebiete angewandt, und so traten ihre Parallelen zum buddhistischen Denken immer offener zutage. Da in den Therapien immer klarer wurde, daß die Schwierigkeiten der Patienten entstehen, weil sie im Grunde nicht wissen, wer sie sind, hat sich die Frage nach dem Selbst als gemeinsamer Schwerpunkt von Buddhismus und Psychoanalyse herauskristallisiert. Obwohl die westliche Tradition es bei der Beschreibung dessen, was man das narzißtische Dilemma nennt – das Gefühl mangelnder Authentizität bzw. von Leere, das Menschen dazu treibt, sich und andere entweder zu idealisieren oder für minderwertig zu halten –, zu einer gewissen Meisterschaft gebracht hat, kam es zu einer längeren Kontroverse über die Anwendbarkeit der psychoanalytischen Methode bei diesen Störungen. Die westlichen Therapeuten haben mit dem narzißtischen Dilemma eine entscheidende Quelle des neurotischen Elends erkannt, allerdings ohne dafür eine verläßliche Behandlungsweise zu entwickeln. An diesem Punkt der Entwicklung haben sich schließlich viele Psychologen auf James rückbesonnen; sie sind bereit, den psychologischen Lehren des Buddha Beachtung zu schenken.
In der buddhistischen Psychologie ist dieses zentrale Gefühl der Unsicherheit über die eigene Identität der Ausgangspunkt, der zu der Schlußfolgerung führt, daß unsere üblichen Bemühungen, Sicherheit zu erlangen, letzten Endes zum Scheitern verurteilt sind. Der Buddhismus beschreibt nicht nur das Ringen um ein »wahres Selbst« in Termini, von denen westliche Psychologen jahrzehntelang beeindruckt waren (aus Freuds innerem Kreis studierten einige Analytiker damals gerade erst neu übersetzte buddhistische Texte wegen ihrer Einsichten in das Wesen des Narzißmus), sondern bietet darüber hinaus eine Methode der analytischen Erforschung, die im Repertoire der westlichen Tradition nicht enthalten ist. Aus buddhistischer Perspektive ist die Meditation eine unabdingbare Voraussetzung, um das Individuum vom neurotischen Elend zu befreien. Die Psychotherapie mag ebenso notwendig sein, insbesondere, um erotische oder aggressive Konflikte aufzudecken und ihnen ihre Schärfe zu nehmen, doch wird man im psychotherapeutischen Dialog immer wieder auf das Problem des rastlosen und unsichtbaren Selbst stoßen. Die Psychotherapie kann das Problem erkennen, es deutlich machen, auf einige Defizite in der Kindheit, die zu seiner Entwicklung beitrugen, hinweisen und helfen, die Verflechtungen erotischer und aggressiver Bestrebungen mit der Suche nach einem befriedigenden Selbstgefühl zu verringern, sie war bisher allerdings nicht in der Lage, ihre Patienten vom narzißtischen Streben zu befreien. Bei Freud sind Anzeichen dafür vorhanden, daß er diesen Mangel spät in seinem Leben erkannt und in dem Aufsatz »Die endliche und die unendliche Analyse«[1] beschrieben hat, doch gleich ihm gaben sich Generationen von Therapeuten und Patienten mit der relativen Linderung zufrieden, die die Psychotherapie zu bieten hat. Der Buddhismus verspricht eindeutig mehr, und deswegen hat er die Aufmerksamkeit der Psychotherapeuten auf sich gezogen, wobei ihm durch sein Verdienst der »Entdeckung« des Narzißmus schon der Boden bereitet war. Dieses Buch ist das Ergebnis meines persönlichen Ringens um die Verbindung der Lehren des Buddha mit den Einsichten der westlichen Psychologie, der beiden wichtigsten Einflüsse auf meine eigene Entwicklung.
In buddhistischen Ländern verwendet man das Lebensrad zur Erläuterung von Karma. Danach wirken sich die Taten einer Person in diesem Leben darauf aus, wie sie im nächsten Leben wiedergeboren wird. Tut man anderen etwas zuleide, führt das zur Wiedergeburt im Bereich der Hölle; frönt man den Leidenschaften, wird man im Bereich der Tiere wiedergeboren; gibt man anderen (vor allem Mönchen und Klöstern), so erfolgt die Wiedergeburt in einem besseren menschlichen Leben oder im Bereich der Goner usw. Die wirklich psychologischen Lehren vom Karma sind natürlich sehr viel differenzierter als das eben Gesagte, doch ist das Mandala die Art von Bild, die Kinder oder Anfänger leicht begreifen. Der wichtigste Punkt ist folgender: Solange Lebewesen von Begierde, Haß und Verblendung – den drei Kräften, die im Kreisinneren als Schwein, Schlange und Hahn dargestellt sind und sich wechselseitig zu verschlingen trachten – getrieben sind, bleiben sie sich ihrer eigenen Buddha–Natur unbewußt; sie wissen nicht um die vergängliche, nicht–wesenhafte und unbefriedigende Natur der Welt und bleiben im Lebensrad gefangen.
Eines der überzeugendsten Momente der buddhistischen Sicht des Leidens ist die im Bild des Lebensrads enthaltene Vorstellung, daß die Ursachen des Leidens zugleich die Mittel zur Erlösung sind; das bedeutet, die Perspektive des Leidenden bestimmt, ob ein gegebener Bereich Medium des Erwachens oder der Gefangenschaft ist. Von den Kräften der Gier, des Ärgers und der Torheit bestimmt, verursacht unsere fehlerhafte Wahrnehmung der Bereiche – nicht die Bereiche selbst – das Leiden. Jeder Bereich enthält eine kleine Buddha–Gestalt (eigentlich handelt es sich um den Bodhisattva des Mitgefühls, dessen Streben darauf gerichtet ist, das Leiden anderer zu beseitigen), die uns auf symbolische Weise lehrt, wie wir die falschen Wahrnehmungen korrigieren können, die jede Dimension verzerren und damit das Leiden perpetuieren. Wir erfahren keinen Bereich in aller Klarheit, lehren die Buddhisten; statt dessen durchleben wir sie alle angsterfüllt; abgeschnitten von der Fülle der Erfahrung, unfähig, sie zu akzeptieren, fürchten wir uns vor dem, was wir zu sehen bekommen. So wie wir den »geschwätzigen Affen« in uns nicht zum Schweigen bringen können, so gleiten wir von einem Bereich in den nächsten, ohne wirklich zu wissen, wo wir uns befinden. Wir sind in unserem Geist befangen, kennen ihn aber nicht wirklich. Von dessen Wellenbewegung angetrieben, treiben wir dahin und mühen uns ab, weil wir nicht gelernt haben, loszulassen und frei zu schweben.
Dies ist die andere Möglichkeit, das Lebensrad zu verstehen, weniger wörtlich als psychologisch. Schließlich ist die Hauptfrage der buddhistischen Praxis die psychologische Frage: »Wer hin ich?« Ihre Beantwortung erfordert die Erkundung aller Daseinsbereiche. Diese verwandeln sich somit in Metaphern für verschiedene psychologische Zustände, wodurch das ganze Rad zur Darstellung des neurotischen Leidens wird.
Dem Buddhismus zufolge ist es unsere Furcht davor, uns unmittelbar selbst zu erfahren, die Leiden schafft. Dies schien mir immer sehr gut zu Freuds Ansichten zu passen. So behauptete Freud, der Patient 
muß den Mut erwerben, seine Aufmerksamkeit mit den Erscheinungen der Krankheit zu beschäftigen. Die Krankheit selbst darf ihm nichts Verächtliches mehr sein, vielmehr ein würdiger Gegner werden, ein Stück seines Wesens, das sich auf gute Motive stützt, aus dem es Wertvolles für sein späteres Leben zu holen gilt. Die Versöhnung mit dem Verdrängten, welches sich in den Symptomen äußert, wird so von Anfang an vorbereitet, aber es wird auch eine gewisse Toleranz fürs Kranksein eingeräumt.[2]
 Der Glaube, daß Versöhnung zur Erlösung führen kann, ist grundlegend für die buddhistische Vorstellung von den Sechs Bereichen. Wir können nicht zur Erleuchtung gelangen, solange wir unserem neurotischen Geist entfremdet bleiben. Wie Freud so weitblickend bemerkte: »Auf diesem Felde muß der Sieg gewonnen werden, dessen Ausdruck die dauernde Genesung von der Neurose ist, ... denn schließlich kann niemand in absentia oder in effigie erschlagen werden.«[2] In jedem Bereich unserer Erfahrung, lehren die Buddhisten, müssen wir klar sehen lernen. Nur dann läßt sich das Leiden umwandeln, das der Buddha als universell erkannte. Die Erlösung vom Lebensrad, von den Sechs Daseinsbereichen wird traditionell als Nirvana beschrieben und mit dem Pfad symbolisiert, der aus dem Bereich der Menschen hinausführt. Es ist jedoch mittlerweile ein grundlegendes Axiom des buddhistischen Denkens, daß Nirvana Samsara ist – daß es keinen getrennten Bereich des Buddha neben der weltlichen Existenz gibt, daß die Erlösung vom Leiden durch eine veränderte Wahrnehmung gewonnen wird, nicht durch das Überwechseln in ein himmlisches Reich.
Die westliche Psychologie hat viel zur Erhellung der Sechs Bereiche beigetragen. Freud und seine Anhänger deckten die animalische Natur der Leidenschaften auf, die höllische Natur von paranoiden, aggressiven und Angstzuständen sowie die unstillbare Sehnsucht, das orale Verlangen (im Lebensrad sind es die Hungergeister). Spätere Entwicklungen in der Psychotherapie rückten sogar die höheren Bereiche in den Mittelpunkt. Die humanistische Psychotherapie legte den Schwerpunkt auf die »Gipfelerlebnisse« (Maslow) im Bereich der Götter; die Ich–Psychologie, der Behaviorismus und die kognitive Therapie forderten das wettbewerbsfähige und effiziente Ich, das im Buddhismus im Bereich der Neidischen Götter angesiedelt ist; und die Psychologie des Narzißmus behandelte ausdrücklich die für den Bereich der Menschen so wichtigen Fragen der Identität. Jede dieser Richtungen befaßte sich mit der Rückgabe eines fehlenden Stücks menschlicher Erfahrung, eines Moments des neurotischen Geistes, von dem wir uns entfremdet haben.
Das Interesse an der Integration aller Aspekte des Selbst ist grundlegend für die buddhistische Vorstellung von den Sechs Daseinsbereichen. Wir sind nicht nur von diesen Aspekten unseres Charakters entfremdet, behauptet die buddhistische Lehre, sondern auch von unserer eigenen Buddha–Natur, von unserem eigenen erleuchteten Geist. In der Meditation kann man lernen, das ganze Material der Sechs Bereiche zu erschließen und damit alle Punkte, an denen unser Geist haftet.
Bleiben Persönlichkeitsaspekte unverdaut – werden sie abgeschnitten, verleugnet, projiziert, zurückgewiesen, gibt man ihnen distanzlos nach oder werden sie auf andere Weise nicht assimiliert –, dann werden sie zu den Kristallisationspunkten für Begierden, Haß und Verblendung. Es sind schwarze Löcher, die Angst absorbieren und die Abwehrhaltung des isolierten Selbst schaffen, das nicht in der Lage ist, befriedigende Kontakte zu anderen bzw. zur Welt zu knüpfen. Wie Wilhelm Reich in seinem bahnbrechenden Werk über die Charakterbildung zeigte, ist die Persönlichkeit auf diesen Momenten der Selbstentfremdung aufgebaut; das Paradox besteht darin, daß das, was wir für so real halten, unser Selbst, in Reaktion auf das konstruiert wird, was wir nicht anerkennen wollen. Rund um das, was wir verleugnen, spannen wir uns an und erfahren uns selbst durch unsere Spannungen. Ein Patient, der kürzlich bei mir in Therapie war, erkannte beispielsweise, daß er eine Identität aufgebaut hatte, die sich um die Pole Scham, Minderwertigkeit und Zorn drehte. Diese Gefühle wurzelten in der Erfahrung, daß seine Mutter für ihn, als er ein kleines Kind war, emotional nicht verfügbar war. Er hatte ihre Abwesenheit gespürt und Angst bekommen. Doch dieses Gefühl war für seine Psyche zu bedrohlich gewesen, so daß er es statt dessen in ein Bild seiner eigenen Unzulänglichkeit umgewandelt und sich so selbst zum Problem erklärte hatte. Erst als er schon lange erwachsen war und seine Mutter, von einem Schlaganfall gelähmt, nicht auf ihn reagieren konnte, gestand er sich diese Angst endlich ein. Das Gebilde des Selbst ist aus solchen schwarzen Löchern in unserer emotionalen Erfahrung zusammengeheftet. Wenn man sich diese Aspekte, die man verdrängt hatte, bewußt macht, sie akzeptiert, toleriert oder integriert, kann das Selbst eine Einheit bilden; es verschwindet die Notwendigkeit, eine selbstbewußte Fassade aufrechtzuerhalten, und die Kraft des Mitgefühls wird freigesetzt. Erst als mein Patient schließlich imstande war, sich seine eigene Angst vor der emotionalen Nicht–Verfügbarkeit seiner Mutter einzugestehen, konnte er Mitgefühl mit ihren emotionalen Dilemma entwickeln. Seine Scham hatte das vorher verhindert. Mit anderen Worten hat der berühmte Zen–Meister Dogen es so formuliert: 
Den Buddhismus studieren, ist das Selbst studieren. Das Selbst studieren, ist das Selbst vergessen. Das Selbst vergessen, ist mit anderen eins sein. 
Durch die Lehren vom Lebensrad werden wir daran erinnert, daß es nicht genügt, die Hemmungen nur in einem oder zwei der sechs Bereiche aufzudecken; wir müssen es in allen tun. Wer von seinen Leidenschaften abgeschnitten ist, nicht aber von seiner gottähnlichen Natur, ist genauso unausgeglichen und unerträglich wie jemand, der am umgekehrten Szenario leidet. Viele Forschungsrichtungen der westlichen Psychotherapie haben die Leiden in einem besonderen Bereich sehr aufmerksam analysiert, aber keine hat das ganze Lebensrad erforscht. Freud erforschte zum Beispiel den Bereich der Tiere und der Begierde; die Kinderanalytikerin Melanie Klein den Bereich der Höllenwesen voller Ängste und Aggressionen; der britische Psychoanalytiker D. W. Winnicott und der Vater der Psychologie des Selbst, Heinz Kohut, den menschlichen Bereich des Narzißmus, und die humanistischen Psychologen Carl Rogers und Abraham Maslow den Götterbereich der »Gipfelerlebnisse«. Alle diese Ansätze waren hilfreich – ja sogar wesentlich – für die Behandlung je besonderer Punkte, an denen der Neurotiker haftet. Sie sind jedoch in sich beschränkt, weil jeder sich nur auf eine Dimension konzentriert. Bis zu einem gewissen Grad mag jeder Ansatz notwendig sein, doch betrachtet die buddhistische Tradition das ganze Mandala als Reflexion des neurotischen Geistes und fordert daher einen umfassend anwendbaren Ansatz.
Innerhalb des Lebensrads heben die Buddhisten die besondere Chance hervor, die der menschliche Bereich bietet. Nur hier führt der Weg zur Befreiung. Aus diesem Bereich geht die wesentliche Meditationstechnik, die des reinen Gewahrseins, hervor; diese Strategie unterstützt die meisten Therapien, die für die anderen Bereiche entwickelt wurden. Der menschliche Bereich beeinflußt alle anderen: Er ist das Kernstück oder die Nabe des Rades, die Domäne des von seinem eigenen Spiegelbild eingenommenen Narziß auf der Suche nach sich selbst.






 [1]    Sigmund Freud, Die endliche und die unendliche Analyse, in: ders., GW, Bd. 16, Frankfurt am Main (S. Fischer) 19816, S. 80. Am Anfang von Teil III wird ausführlich  auf Freuds Schlußfolgerung, nur ein »normales« Ich könne voll und ganz von der Analyse profitieren, eingegangen.
[2]    Sigmund Freud, Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten, in GW, Bd. 10, Frankfurt am Main (S. Fischer), 19817, S. 132.
[3]    Sigmund Freud, Erinnern, Zur Dynamik der Übertragung, in GW, Bd. 8, Frankfurt am Main (S. Fischer), 19736, S. 374.




aus: Mark Epstein, Gedanken ohne den Denker, Das Wechselspiel von Buddhismus und Psychotherapie, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main, 1998, Kap. 1, 
Das Lebensrad – ein buddhistisches Modell des neurotischen Geistes
siehe auch: