Donnerstag, 27. Oktober 2016

Die Fähigkeit zur Selbstreflexion

In einem Interview äußert sich Gadamer über den Meister-Philosophen Heidegger: "Er war der unreflektierteste Mensch, den ich kannte. Er hat überhaupt nie über sich selber nachgedacht." Wer nicht über sich nachdenkt, kann auch sein eigenes Handeln nicht bewerten. So wartete alle Welt vergeblich darauf, dass Heidegger nach dem Krieg zu seiner zeitweiligen Kooperation mit dem NS-Regime ein selbstkritisches Wort äußern würde. So subtil er die Strukturen des Denkens und der Sprache zu analysieren vermochte, so wenig war er imstande oder willens, zu seiner eigenen Person und seinem eigenen Verhalten Stellung zu nehmen. Damit vermied er es auch, Verantwortung für sein Handeln zu übernehmen, z. B. sich für eigene politische Entscheidungen und deren Folgen für andere zu entschuldigen.

Wir können nicht mit Sicherheit sagen, ob wir, Gadamer folgend, die hier angedeutete Situation aus heutiger Sicht richtig einschätzen. Was würde einen reflektierten Menschen ausmachen? Das lässt sich im psychodynamisehen Konzept recht gut beschreiben. Dieser würde sich im Nachdenken nicht nur mit den Dingen der Welt und ihren Erklärungen beschäftigen, sondern bei Gelegenheit mithilfe seines beobachtenden Ichs auch sein emotional bewegtes Selbst zur Kenntnis nehmen. Damit sein Ich das Selbst verstehen kann, benötigt es die Fähigkeit, die innerseelischen affektiven Vorgänge zu registrieren und in Worte zu fassen. Im ersten Schritt könnte er erfassen, dass er gefühlsmäßig beteiligt und berührt ist. Im zweiten Schritt gälte es, die Qualität der Empfindungen in Worte zu fassen: "In mir regt sich Furcht oder Enttäuschung oder Hoffnung oder Freude oder Ärger." Damit beginnt er die Situation zu verstehen und es tauchen Vorstellungen auf, wie er zweckmäßig auf sie reagieren könnte. Jeder Affekt schafft bezogen auf die äußere Situation, die nun innerlich reflektiert wird, eine propositionale Struktur, ein Handlungsschema bezogen auf die äußeren Objekte. Zugleich werden Erinnerungen wach an vorausgegangene Erfahrungen und es werden die darauf gegründeten Überzeugungen spürbar. Die Beziehung zwischen dem Ich und den äußeren Objekten kann auf diese Weise innerseelisch durchgespielt werden, als emotionale Erfahrung, als Erinnerung an Früheres, als Handlungsentwurf für zweckmäßiges Reagieren und alles dies in Bezug auf bereits vorhandene Überzeugungen und verinnerlichte Regeln und Normen. Dieses selbstreflexive Geschehen ist weniger aktives Tun als vielmehr Gewahrwerden der Vorgänge in einem "seelischen Binnenraum".

Es ist dies ein Denken, das nicht die Dinge der Welt, sondern die eigene Person zum Gegenstand nimmt. Wahrnehmen kann man das eigene Bild im Spiegel oder auf einem Foto, für das eigene Innen gibt es jedoch keine eigentlichen Sinnesorgane, sodass der Begriff Selbstwahrnehmung fraglich ist, worauf Bennen und Hacker (2010) hinweisen. Was als Selbstwahrnehmung bezeichnet wird, ist ein Gewahrwerden, Sich-bewusst-Machen von psychischen Zuständen und Abläufen, z. B. von Emotionen, Einfällen, Fantasien, Erinnerungen, Wünschen, Gedanken etc. Ein Mensch kann seinen bewussten Aufmerksamkeitsfokus auf sein Inneres ausrichten, sich dessen bewusst werden und sich dann darüber Gedanken machen, was in ihm abläuft und was das mit seinem selbst zu tun hat.

aus: Gerd Rudolf, Wie Menschen sind (Schattauer, 2015, S. 87f.)

siehe auch:
Link zum Aufsatz »Strukturbezogene Psychotherapie« von Prof. Rudolf in dem Buch von Cierpka und Rudolf »Die Struktur der Persönlichkeit«

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