Samstag, 10. November 2012

Die Annahme des Selbst


Die uns geläufige Erfahrung, daß wir unser Selbst vergessen, wenn wir beispielsweise einen Wasserhahn reparieren, läßt sich durchaus als ein Modell dessen auffassen, was wir Zazen nennen – die Meditationspraxis des Zenschülers. Bevor wir jedoch auch nur den geringsten Grad der Selbstvergessenheit erreichen können, ist ein gewisses Maß an Vertrauen notwendig. So könnte etwa ein Kunstspringer, der bei jedem Sprung vom Zehnmeterturm alles Störende von sich abstreift, seinen Sport gar nicht ausüben, hätte er nicht ein bestimmtes Vertrauen entwickelt, ein Vertrauen, das parallel zu dem Grad seiner Könnerschaft wächst. Dieses »Loslassen« läßt sich allerdings nicht willkürlich erzwingen. Der Kunstspringer ist eins geworden mit der Praxis seiner sportlichen Aktivität – er ist frei und zugleich einem hohen Maß an Disziplin unterworfen.
Aber selbst Kunstspringer der höchsten Kategorie treten noch nicht in Kontakt mit ihren tiefsten Möglichkeiten, solange sie nur immer wieder üben, vom Zehnmeterturm aus möglichst elegant ins Wasser zu springen. Ein angemesseneres Modell haben wir in einem der Archetypen des Zazen, und zwar in der Figur des Mañjushrī, die auf dem Altar des Zendō (das heißt der Meditationshalle) den zentralen Platz einnimmt. Mañjushrī hält eine Schriftrolle in der Hand, ein Symbol der Weisheit, und ein Schwert, mit dem er unsere begrifflichen Fixierungen zertrümmert. Er sitzt auf einem ruhenden Löwen, und sowohl Mañjushrī als auch der Löwe wirken sehr entspannt. Die Kraft des Löwen ist indessen nicht verschwunden, und die Stimme, mit der Mañjushrī spricht, ist die Stimme des Löwen. Vollkommen frei und zugleich vollkommen kontrolliert! Der Zen-Novize muß sich zunächst mit dem Löwen befreunden und diesen zähmen, bevor er den Löwensitz einnehmen kann. Dazu sind Zeit und Geduld vonnöten.
Am Anfang scheint diese innere »Kreatur« eher ein Affe als ein Löwe zu sein; gierig ergreift sie die buntschillernden Objekte der Außen- und Innenwelt und springt von einem Ding zum andern. Viele Menschen tadeln sich selbst, ja verachten sich wegen ihres sprunghaften Verhaltens. Aber wenn wir uns selbst ablehnen, so lehnen wir auch das Agens jeglicher Er­kenntnis ab. Deshalb müssen wir mit uns selbst Freundschaft schließen. Freuen wir uns daher, und versöhnen wir uns mit uns selbst. Lächeln wir uns selbst zu. Dann können wir Vertrauen zu uns entwickeln.
Damit hier kein Mißverständnis aufkommt: Ich möchte hier nicht den Weg des Stolzes und der Selbstbezogenheit propagieren. Vielmehr verweise ich auf Bashos Weg, der sich selbst und seine Freunde ohne jegliche Überheblichkeit liebte:
Hier in unserem Mondbegaffer-Club
ist ein schön’ Gesicht nicht anzutreffen.

Matsuo Bashō, Zeichnung von Yosa Buson, aus Wikipedia
Ich habe diese Zeilen bereits an anderer Stelle kommentiert. Dort sagte ich: »Was für einfältige Idioten wir doch sind, die wir hier im Mondlicht sitzen«. Diese Form einer humorvoll-selbstironischen Freude an sich selbst ist das wahre Fundament jeglicher Verantwortung, der Fähigkeit nämlich, zu antworten. Wenn wir einen Fehler machen, so können wir uns anschließend entweder selbst bestrafen oder nur lächelnd den Kopf schütteln und aus unserem Fehlverhalten lernen. Falls wir uns jedoch selbst verdammen, so erzielen wir im Grunde genommen nur ein Ergebnis: Wir vergeuden unsere Zeit und entfernen uns nur wieder von der Praxis des Zen. Beschließen wir hingegen, unseren Irrtum einfach abzuhaken und es beim nächsten Mal besser zu machen, dann stellen wir unsere Bereitschaft unter Beweis, in diese Praxis tatsächlich »einzutauchen«.

Siddhartha Gautama. Statue am Niederrhein in der Darstellung als Buddha Shakyamuni (Der Weise aus dem Geschlecht der Shakya), aus Wikipedia
Hätte Shakyamuni Buddha sich unentwegt nur mit seinen eigenen Unzulänglichkeiten befaßt statt mit der Frage nach dem Ursprung des Leidens in dieser Welt, so hätte er niemals erkannt, daß alles bereits seit Anbeginn in bester Ordnung ist. Zazen ist nicht die Praxis der Neukonditionierung des eigenen Selbst, einem Seminar vergleichbar, in dem man lernt, Freunde zu gewinnen oder andere Menschen zu beeinflussen. Ernsthaftes Zazen bewirkt zwar eine Veränderung des Charakters, allerdings nicht im Sinne einer Ich-Anpassung. Vielmehr bedeutet es, das eigene Selbst zu vergessen.
Yamada Kôun Roshi (Bild von zen-kontemplation.de)
Yamada Roshi hat erklärt: »Zen zu praktizieren heißt, im Akt der Vereinigung mit etwas das eigene Selbst zu vergessen.« Das bedeutet jedoch nicht, daß wir versuchen sollten, unser Selbst loszuwerden. Das ist nicht möglich, es sei denn durch Selbstmord, und Selbstmord ist das bedauerlichste Schicksal überhaupt, denn jeder von uns – wie überhaupt alle Wesen im Universum – ist einmalig, und in unserer individuellen Gestalt kommt der Tathāgata als unser Wesen zum Vorschein.
Das eigene Selbst zu vergessen heißt, die eigene Einmaligkeit zum Ausdruck zu bringen. Man muß nur einmal beobachten, wie sehr er selbst der Pantomime Marcel Marceau wird, wenn er sich selbst in seiner Arbeit vergißt. Und das ist seine Arbeit. Wir alle sind besonders dann wir selbst, wenn wir uns beim Wechsel eines Autoreifens oder bei einer sonstigen Tätigkeit selbst vergessen. Diese Selbstvergessenheit bezeichnet den Akt des reinen Tuns, eines Tuns, dem nicht die geringste Spur eines Selbstbewußtseins anhaftet.
aus Robert Aitken, Zen als Lebenspraxis, Diederichs Gelbe Reihe München, 1988, S. 27ff.