Mittwoch, 9. April 2008

Freu dich auf die nächste Krise

»Katastrophen können eine Ehe retten. Man muss sich trauen, alles zusammenbrechen zulassen.« Ein Gespräch mit den Bestseller-Autoren Eva-Maria und Wolfram Zurhorst
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Von Christoph Quarch

Publik-Forum: Frau Zurhorst, Sie haben ein Buch geschrieben, das zu einem großen Erfolg wurde: »Liebe dich selbst, und es ist egal, wen du heiratest«. Warum ist es egal, wen ich heirate, wenn ich mich nur selbst liebe?
Eva-Maria Zurhorst: Am Ende ist es natürlich nicht egal, wen ich heirate. Der Titel ist eine Provokation. Ich möchte mit diesem Titel dazu einzuladen, den Fokus zu ändern. Bei den meisten Partnerschaften richten wir unsere Aufmerksamkeit ganz auf den Partner. Wir erwarten, dass er mir ein schönes Leben macht und gute Gefühle bereitet, dass er zärtlich zu mir ist und die Leidenschaft in mir entfacht. Man stelle sich vor: Das alles soll dieser arme Mensch leisten! Und gesetzt den Fall, er leistete es tatsächlich, wäre ich selbst mit großer Wahrscheinlichkeit gar nicht in der Lage, all das entgegenzunehmen; weil es in mir -wie bei so vielen anderen Menschen auch – tief in der Seele das Gefühl gibt, wertlos zu sein, aus dem heraus die Sehnsucht danach wächst, vom Partner alles geboten zu bekommen.

Publik-Forum: Und deswegen empfehlen Sie, sich zunächst einmal selbst zu lieben?
Eva-Maria Zurhorst: Genau. Denn schauen Sie, bei vielen Frauen ist es so: Da kommt ihr Mann und sagt ihnen, dass er sie über alles liebt und sie schön findet – und dann schauen sie in den Spiegel und finden sich gar nicht so schön.Was passiert? Sie glauben ihrem Mann nicht, können seine Liebe nicht annehmen. Und deswegen sage ich: Was mich wirklich für die Liebe öffnet, das ist, den Blick von außen nach innen zu kehren und sich zu fragen: Wer bin ich eigentlich? Rabe ich es verdient, geliebt zu werden? Bin ich liebenswert?

Eva-Maria Zurhorst
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war ursprünglich Journalistin und Buchautorin. Später wechselte sie als Coach und Kommunikationsberaterin in die Wirtschaft. Heute arbeitet sie als Beziehungs- und Karrierecoach. 2004 erschien ihr Bestseller »Liebe dich selbst, und es ist egal, wen du heiratest«. 2007 folgte zusammen mit ihrem Mann das Buch »Liebe dich selbst, und freu dich auf die nächste Krise«.

Wolfram Zurhorst
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ist von Hause aus Kaufmann. Als Manager machte er Karriere in führenden Unternehmen der Textilbranche, bis er vor einigen Jahren entschied, sich als Beziehungscoach ganz dem Projekt »Liebe dich selbst« zu widmen.


Publik-Forum: Und dann?
Eva-Maria Zurhorst: Wenn ich mir diese Fragen vorlege und ihnen nachgehe, dann kann das Wunder geschehen, dass ich mit meinem Partner- auch wenn er kein Prinz ist-zu einer ganz neuen Beziehung finden kann. Denn entscheidend für das Gelingen einer Beziehung ist, sich selbst anzunehmen.

Publik-Forum: Herr Zurhorst, können Sie das bestätigen?
Wolfram Zurhorst: Absolut. Ich selbst bin jahrelang mit einer klaren Vorstellung davon durch die Gegend gelaufen, wie meine ideale Partnerin auszusehen hat. Ich war mir anfangs dessen nicht bewusst, aber heute kann ich sagen, dass diese Bilder völlig oberflächlich waren: Sie sollte hübsch anzuschauen sein, leicht in ihremWesen, fröhlich im Gemüt. Je mehr ich dann im Laufe unserer Beziehung genötigt wurde, mich in meiner Oberflächlichkeit zu durchschauen, desto mehr habe ich mich nach der tieferen Ebene gesehnt, die mir meine Frau anfangs zwar gezeigt hatte, die mich damals aber irgendwie genervt und überfordert hatte.

Publik-Forum: Auch hier der Perspektivwechsel von außen nach innen?
Wolfram Zurhorst: Ich war – wie so viele Männer – ganz auf den beruflichen Erfolg fixiert. Mir ging es um Anerkennung von außen. Und dabei habe ich mich komplett vergessen.

Publik-Forum: Da ist eine persönliche Erfahrung im Hintergrund.
Wolfram Zurhorst: Wir haben sehr früh geheiratet und sind früh Eltern geworden. Was habe ich getan? Ich bin nicht etwa neugierig in die Ehe hineingegangen, sondern habe mich aus dem Staub gemacht und in die Arbeit gestürzt. Tja, und das ging so lange, bis meine Frau und ich an dem Punkt waren, an dem wir definitiv keine Möglichkeit mehr hatten, miteinander zu reden. Wir sahen uns schlicht nicht mehr. Und dann kam es zum Crash. Es war an einem runden Geburtstag von mir, Ich wollte es besonders nett haben, und alle geladenen Freunde sollten sich wohlfühlen. Na ja, da ist meiner Frau der Kragen geplatzt.

Publik-Forum: Was war los?
Eva-Maria Zurhorst: Ich konnte nicht mehr. Ich konnte diese Rolle nicht mehr spielen: die Gastgeberin, die Ehefrau, die Mutter – all diese Hüllen. Ich hatte das Gefühl, eine einzige Aufeinanderschichtung von Hüllen zu sein. Und dann musste ich auch noch nett sein: Küsschen hier, Küsschen da …
Wolfram Zurhorst: Bis dann eine Freundin zu ihr in die Küche ging und fragte, was denn los sei. Und dann platzte es aus ihr heraus. In diesem Augenblick begann ein Prozess, bei dem wir uns beide gnadenlos die Wahrheit aufgetischt haben.
Eva-Maria Zurhorst: Für mich war klar: Jetzt geht nur noch Scheidung.
Wolfram Zurhorst: Und ich hatte zum ersten Mal den Mut zu sagen: Ich will schon lange nicht mehr.
Eva-Maria Zurhorst: Heute wissen wir aus vielen Gesprächen mit Paaren, dass das, was uns widerfahren ist, nicht ungewöhnlich ist: dass viele erst eine Leere zwischen ',ich spüren und sich dann davonstehlen: in Affären, Job, Kinder, egal was; und dass sie die Partnerschaft durch bloßes Funktionieren aufrechterhalten. Und genau das ist fatal. Was ich an diesem Abend gelernt habe, ist: Man muss sich trauen, alles zusammenbrechen zu lassen.

Publik-Forum: Warum?
Eva-Maria Zurhorst: Weil durch den Zusammenbruch des Falschen das Echte und Wahre eine Chance hat, zum Vorschein zu kommen. Wir haben das erst später verstanden, aber an diesem Abend war zum ersten Mal seit Jahren so etwas wie Nähe spürbar. Sie war zwar nicht schön, aber sie war wahr.
Wolfram Zurhorst: Da war klar: Jetzt beginnt eine Phase, wo jeder nur noch mit sich beschäftigt ist und klarkriegt, wer er ist und was er will. Und wissen Sie, was das mit mir gemacht hat? Ich habe gemerkt: Da ist überhaupt nichts. Ich weiß überhaupt nicht, wer ich bin!

Publik-Forum: Wie haben Sie es angestellt, in einer so schmerzvollen Situation so etwas wie Selbstliebe zu entwickeln?
Eva-Maria Zurhorst: Selbstliebe ist nicht ein euphorisierter Zustand, in dem ich selig vor mich hintaumle. Selbstliebe ist Selbsterkenntnis: in diesem Falle die Erfahrung, selbst den totalen Zusammenbruch zu überstehen: und in dem Zusammenbruch das Bewusstsein für eine echte und tiefe Verbundenheit unter all den falschen Rollen und Bildern zu entwickeln.
Wolfram Zurhorst: Für mich war es völlig neu, innezuhalten und in mich hineinzuhorchen, das anzunehmen, was sich in mir zeigen wollte, der Wahrheit ins Gesicht zu schauen. Das war nicht schön, aber es stimmte.
Eva-Maria Zurhorst: Und das ist Selbstliebe!

Publik-Forum: Nun haben Sie beide diesen Prozess durchgemacht und sitzen als Ehepaar vor mir …
Eva-Maria Zurhorst: Sorry, wenn ich Sie unterbreche, aber hier muss ich Einspruch einlegen: Es geht hier nicht um einen Prozess, den Sie irgendwann durchgemacht haben. Es ist ein lebenslanger Prozess. Ich stelle mir das Leben vor wie eine Rose, die ihre Blätter entfaltet. Jedes Blatt zeigt eine neue, bisher unbekannte Seite von mir. Je mehr dieser Seiten sich zeigen dürfen, desto schöner wird es. Und desto aufregender: Denn je mehr ich mich auf das Abenteuer der Selbstentfaltung einlasse, desto reicher und spannender wird das Beziehungsleben. Das erfordert auch den Mut, nicht irgendwo ankommen zu wollen – nach dem Motto: »So, Schatz, jetzt haben wir's geschafft« –, sondern immer weiterzugehen. Das Leben stellt uns permanent neue Aufgaben. Gerade das heißt lebendig sein.
Wolfram Zurhorst: Wir haben die Erfahrung gemacht, in einer scheinbar ausweglosen Situation doch einen Weg zu finden, wie es weitergehen konnte: einen Weg, der mitten durch die Krise hindurchgeführt hat einen Weg, den wir erst jeder für sich selbst, dann aber auch miteinander gegangen sind.

Publik-Forum: Darf ich kurz einhaken? Sie haben zueinandergefunden, indem jeder von Ihnen zunächst für sich und in sich gegangen ist?
Wolfram Zurhorst: Das ist so. Entscheidend dafür war der Punkt, an dem wir beide uns eingestanden haben: Wir können nicht mehr! An diesem Punkt, als alles ausgesprochen war und ich nur noch Schwarz sah, entdeckte ich ein kleines, glimmendes Gefühl tiefer Verbundenheit. Diese Verbundenheit war mir vorher überhaupt nicht bewusst. Aber das Gefühl war echt. Ihm verdanken wir, dass wir heute zusammen sind. Denn wir sind der Spur dieses Gefühls nachgegangen – haben uns gleichsam auf die Lauer gelegt, ganz vorsichtig und zart.
Eva-Maria Zurhorst: Das ist schön, was du da sagst. Da war dieses kleine Gefühl, das jeder von uns beiden gespürt hat, auch wenn wir es anfangs nicht benennen konnten. Aber es war da, und nun konnten wir damit arbeiten.


»Wir haben die Erfahrung gemacht,
in einer scheinbar ausweglosen Situation
doch einen Weg zu finden,
wie es weitergehen konnte.«


Publik-Forum: Das klingt so, als sei die Krise eine Art Dusche, die alle Schlacken unserer Bilder und Ideale abträgt, bis am Ende der wahre Kern der Liebe freigelegt ist.
Eva-Maria Zurhorst: Dazu fällt mir die Geschichte einer spirituellen Autorin namens Marianne Williamson ein. Die Frau hatte jede Menge Probleme: Alkoholexzesse, Männergeschichten, Drogen. Bis irgendwann ihre Freunde ihr sagten: »Miane, du musst dein Leben ändern. Du musst Gott in dein Leben lassen. Dann wird sich Ruhe über dich senken.« Sie hat sich aber nicht darum geschert, bis sie irgendwann mit einem Nervenzusammenbruch im Krankenhaus gelandet ist. Sie war so am Ende, dass sie sich sagte: »Okay, dann werde ich wohl beten müssen und Gott zu mir einladen!« Sie tat es, und offenbar kam Gott wirklich zu ihr. Aber nicht so, wie ihre Freunde es ihr in Aussicht gestellt hatten. Der Gott, der zu ihr kam, hatte eine große Abrissbirne dabei und hat auch noch die letzten Trümmer, die von ihrem alten Leben übrig geblieben waren, in Schutt gelegt.

Publik-Forum: Was bleibt uns da zu tun?
Eva-Maria Zurhorst: Wichtig ist es, ein Gespür dafür zu entwickeln, wann und wo Kurskorrekturen nötig sind: in meiner Beziehung, mit meinem Körper, mit meiner Seele. Ich weiß es, aber ich traue mich nicht, das Wissen umzusetzen. Weil ich Angst vor den Konsequenzen habe: vor Einsamkeit, Mangel an Sicherheit, Ungewissheit. Und dann kommt die Krise und hilft mir. Denn sie zwingt mich, mich in Bewegung zu setzen. Wie der liebe Gott mit der Abrissbirne.

Publik-Forum: Aber müssen wir es denn immer gleich zur Krise kommen lassen? Gibt es nicht auch andere Wege zu einem gelingenden Leben?
Eva-Maria Zurhorst: Ein Zehn-Punkte-Programm gibt es nicht. Worauf es ankommt, ist, immer wieder im Augenblick anzukommen. Auch wenn es wehtut. Denn je sensibler ich für mich werde, desto schmerzhafter fühlt es sich an, wenn ich mich verliere. Die Gefahr ist immens, denn wir bewegen uns dauernd in medial vermittelten Vorstellungen, die nicht von uns kommen. Deswegen: Bei sich bleiben, zu sich kommen. Wahrnehmen, was ich tue: bewusst das Essen genießen, in die Natur gehen. Das hört sich vielleicht kitschig an, aber es entspricht meiner Erfahrung. Denn wer ist schon noch bei der Sache? Wer genießt sein Essen? Alles passiert gleichzeitig und automatisch: Fernsehen, Telefonieren, Kaffeetrinken, Rauchen. Und jetzt kommt das Entscheidende: Wenn ich mich an diesen Punkten nicht ändere, habe ich auch keine Chance, meine Partnerschaft zu ändern. Wenn ich wirklich zu mir kommen will, kann das brutale Einschnitte in mein ganzes Leben fordern.
Wolfram Zurhorst: Es klingt vielleicht komisch, aber ich weiß aus eigener Erfahrung, dass ich mich über Krisen freuen kann. Denn sie zeigen mir genau, worum es im nächsten Schritt geht. Ich bin nicht immer achtsam im Augenblick. Ich werde immer auch aufbrausend oder traurig sein. Die Kunst besteht für mich dann darin, das anzunehmen, dem nicht davonzulaufen, sondern ihm nachzugehen.
Eva-Maria Zurhorst: Und sich davor zu hüten, zu glauben, man sei irgendwo angekommen – wisse Bescheid und mehr als die anderen. Hier lauert eine Falle für viele Frauen, die all die Bücher lesen und Seminare besuchen: »Ich weiß, wie's geht, aber mein Mann – der kriegt das gar nicht gebacken!« So läuft das nicht. Am Ende stehen nur drei Dinge: Achtsamkeit, Demut und die Fähigkeit, sich immer wieder vergeben zu können.

Publik-Forum: Wie meinen Sie das?
Eva-Maria Zurhorst: Ich vermassele es doch auch dauernd. Ich bin doch auch unaufmerksam, ich streite doch auch mit meinem Mann. Der Trick ist gerade nicht, ideal sein zu wollen, sondern sich anzunehmen und zu vergeben, demütig und sensibel zu sein.

Publik-Forum: Demut und Sensibilität sind Eigenschaften, die bei Männern nicht so ausgeprägt zu sein scheinen. Wie bringen Sie es Männern nahe, sich dafür zu öffnen?
Wolfram Zurhorst: Zunächst: Ich musste auch erst eins auf die Glocke bekommen, bevor ich gelernt habe, auf meine Gefühle zu achten. Immer hatte ich das Bild von mir vor Augen, als Ehemann und Familienvater nicht traurig oder verletzbar zu sein. Ich weiß noch genau, wie unsere Tochter mir eines Tages sagte: »Papa, ich hab dich noch nie heulen sehen.« Und in diesem Augenblick brach es aus mir heraus. Sie glauben nicht, wie wohltuend und heilsam diese Tränen für mich waren. Heute sage ich: Sensibel zu sein bedeutet, wahrhaftig zu sein. Durch meine wiederentdeckte Sensibilität bekomme ich viel mehr mit, entdecke ich viel mehr Feinheiten.

Publik-Forum: Werden Sie da nicht auch mal als Weichei denunziert?
Wolfram Zurhorst: Aber hallo, natürlich. Als ich durch die ganze Geschichte mit Eva auf meine Gefühle gebracht wurde und diese auch nicht mehr versteckt habe, hat das in meinen Umfeld große Irritation ausgelöst.
Eva-Maria Zurhorst: Mein Mann hatte Karriere gemacht. Das ging bei ihm ganz glatt. Aber für mich und meine Tochter stand er immer weniger zur Verfügung. Nach außen war das alles glänzend und herrlich. Aber wir spürten, dass es ihm nicht guttat. Und dann kam der Rausschmiss, der ihn in den Grundfesten seines Mannseins erschütterte. Ein Mann, der vor Erfolg strahlte, wurde über Nacht zu einer Wurst.
Wolfram Zurhorst: Nach der Riesenkrise mit Eva wurde ich so von heute auf morgen vor die Frage gestellt: Was will ich eigentlich beruflich erreichen? Was soll ich tun?
Eva-Maria Zurhorst: Damals brach äußerlich alles weg. Mein Mann war der große Verdiener. Uns brach die Sicherheit weg, ihm die Karriere. Und plötzlich hatten wir einen Mann zu Hause! Damit begann ein großartiger Prozess, denn nun stand ein Mann, der bis dahin alle Energie für seine Firma aufgewandt hatte, plötzlich seiner Familie zur Verfügung. Das bedeutete nicht nur eine Revolution für unsere Familie das ist für mich eine Revolution für die ganze Gesellschaft. Denn mir ist klar geworden, dass die Männer bei uns gezwungen sind, all ihre Kraft, die die Welt so dringend braucht, irgendwelchen Produkten und Firmen zur Verfügung zu stellen: und dass unsere Familien von dieser männlichen Kraft oft ganz entleert sind. Das Schlimme ist, dass dann oft Frauen in diese Rolle gehen und zu verzickten Bessermännern werden. Die Kinder haben meist keinerlei Ahnung von der Berufswelt, in der sich ihre Väter bewegen. Auf dieses gigantische Problem bin ich erst dadurch aufmerksam geworden, dass bei uns mit einem Schlag wieder ein Mann zu Hause war.

Publik-Forum: Das hat Ihnen gutgetan?
Eva-Maria Zurhorst: Und wie. Ich habe mich verändert, unsere Tochter ist aufgeblüht, und auch er hatte nun das Umfeld, aus dem heraus er neue Aufgaben angehen konnte.

Publik-Forum: Durch die große Krise ist also nicht nur Ihrer beider Partnerschaft echter geworden, sondern Sie beide haben auch Ihre Geschlechteridentität neu entdeckt?
Eva-Maria Zurhorst: Absolut. Wissen Sie, wir Frauen legen heute ein Verhalten an den Tag, das mich an die Nachkriegsfrauen erinnert. Wir gehen voll in die Rolle von Männern und reden uns ein, alles allein hinzubekommen: »Karriere, Kinder – kein Thema, das schaffe ich!« Das ist der Horror. Ich selbst habe auch so gelebt. Und die Männer sind in ihrer Männlichkeit vollkommen verirrt.

Publik-Forum: Und wie erleben Sie sich heute in Ihrer Weiblichkeit?
Eva-Maria Zurhorst: Heute habe ich gelernt, meine Grenzen – gerade auch meine Grenzen als Frau – anzuerkennen und wahrzunehmen. Ich bin wahrlich kein Heimchen am Herd, aber als mein Mann wieder zu Hause war, habe ich erstmals gefühlt, wie überfordert, wie überlastet und einsam ich früher war.
Wolfram Zurhorst: Mein Mannsein war zu dieser Zeit eine absolut leere Hülle. Heute kann ich sagen, dass ich eine ganz andere Form von Mannsein entdeckt habe. Ich habe diese Hülle heruntergerissen und gemerkt, dass darunter meine wirkliche Kraft verborgen war. Ich hatte immer viel Energie in den Job gesteckt. Heute arbeite ich phasenweise sogar mehr, aber ich arbeite mit einer ganz anderen inneren Kraft. Ich bin viel präsenter – und erfolgreicher. Wobei das nicht ein Erfolg ist, der sich in Zahlen ausdrücken lässt, sondern der wahre Erfolg, der darin besteht, dass eine neue Qualität ins Leben kommt.

Publik-Forum: Das heißt konkret?
Wolfram Zurhorst: In meiner neu entdeckten Männlichkeit darf ich Schwächen zeigen und verletzlich sein. Und trotzdem bekomme ich die Dinge geregelt. Ich würde sogar sagen: besser und erfolgreicher als in meinem alten Muster.
Eva-Maria Zurhorst: Mir geht es genauso. Ich traue mich jetzt, Dinge zu sagen, bei denen ich früher gedacht hätte, dass mich alle für ein Heimchen oder eine Mutti halten.

Publik-Forum: Man hat Ihr Buch auch als ein Plädoyer für die Ehe bezeichnet. Zu Recht?
Eva-Maria Zurhorst: In gewisser Hinsicht ja. Aber nicht in dem Sinne, dass Sie in einer Beziehung um jeden Preis durchhalten und alles mitmachen müssen. Was ich sagen will, ist, dass Sie auf dem Weg echter Liebe zuweilen ein deutliches Nein sagen müssen – dass Sie Grenzen setzen müssen. Und dass Sie, wenn Sie das tun, entdecken werden, dass Sie etwas wert sind. Und dass Sie vielleicht ganz anders sind als das, was Ihre Eltern, Ihr Partner, Ihre Kollegen immer von Ihnen erwartet haben. Sie werden ein Gefühl für sich entwickeln. Und dieses gar nicht euphorische, sondern eher stille Gefühl ist es, das ich meine, wenn ich von Selbstliebe rede.

Publik-Forum: Vieles von dem, was Sie sagen, erinnert an das, was auch spirituelle Lehrer sagen. Und die Titel ihrer Bücher lassen das biblische Wort anklingen, wonach wir unseren Nächsten lieben sollen wie uns selbst. Hat diese religiöse Dimension für Sie eine Bedeutung?
Eva-Maria Zurhorst: Wo Sie das so sagen, da kommt mir die Vorstellung, dass es dem lieben Gott gefallen hat, mich in eine Frau zu verkleiden, die gerne Schuhe kauft, die einen Mann aus der Modebranche geheiratet hat und auch sonst völlig unverdächtig ist, im Auftrag des Herrn unterwegs zu sein. Will sagen: Ich fühle mich wie eine Undercoveragentin Gottes. Ich glaube, er hat mir die Chance gegeben, auf eine Weise von ihm zu reden, mit der ich die vielen Menschen nicht verschrecke, die Berührungsängste gegenüber Gott haben. Aber ich sage Ihnen auch: Ich fühle mich in der normalen Welt oft ganz verloren weil ich mich in dieser Agentenrolle einsam fühle und manchmal wütend bin, dass ich sie spielen muss. Doch tief in mir weiß ich, dass es am Ende nur um Gott geht.

Publik-Forum: Nur um Gott?
Eva-Maria Zurhorst: Ja, dieser ganze Weg, von dem wir reden: Ich kann ihn gut beschreiben, aber ich kann ihn nicht machen. Ich kann darauf vertrauen, dass ich durch Krisen hindurchkomme, aber ich schaffe es nicht aus eigener Kraft. Früher war ich eine glühende Gegnerin der Kirche. Ich hatte dort als Kind jede Menge Schlechtes erlebt. Aber als ich mitten in der Krise steckte, da habe ich angefangen zu beten. Und von da an habe ich meinen Weg wieder gefunden.
Wolfram Zurhorst: Auch ich fand Kirche, so wie ich sie als Kind kennenlernte, total unattraktiv – als leeres Ritual, das nichts mit mir zu tun hatte. Aber dann kam ich an diesen Punkt, an dem ich auf mich zurückgeworfen wurde und dadurch diese tiefe Verbindung zu meiner Frau entdeckte. Diese Entdeckung hatte für mich etwas mit dem Göttlichen zu tun. Wo alles, was ich mir aufgebaut hatte, zum Einsturz kam, blieb nur diese tiefe göttliche Verbundenheit. Nun erlebte ich zum ersten Mal, dass ich nie alleine bin, sondern dass da immer eine stille Kraft wirkt, die bei mir ist. Und es ist dieses Etwas, das es mir heute erlaubt, viele Dinge loszulassen. Heute kann ich mich fallen lassen.
Eva-Maria Zurhorst: Wir beten täglich. Wir suchen täglich nach diesem Raum der Verbindung mit Gott.

Publik-Forum: Was heißt das konkret?
Eva-Maria Zurhorst: Ich bin im Gespräch mit Gott, bitte dauernd um Führung – darum, dass er mir zeigt, was ich als Agentin für ihn tun kann; und darum, dass er mich zurückholt, wenn ich mich verirre. Während ich hier im Interview sitze, schmunzle ich innerlich und denke: »Okay, jetzt hast du mir alle Antworten gegeben.« Ich habe mir in diesem Interview selbst gesagt, was ich in den letzten Tagen vergessen hatte. Ich sage das scheinbar Ihnen oder anderen Leuten, aber in Wahrheit schmunzle ich und weiß, dass durch mich Gott zu mir selbst spricht. Ist das nicht schön?

Die Bücher von Eva-Maria und Wolfram Zurhorst sind über den Publik-Forum Shop zu beziehen: »Liebe dich selbst, und es ist egal, wen du heiratest«, Bestell-Nr. 7724; »Liebe dich selbst, und freu dich auf die nächste Krise«, Bestell-Nr. 7723

aus Publik-Forum Nr. 1 • 2008

Ich zucke immer zusammen, wenn sich die Dinge so gut anhören. Hier noch zwei Links:
zu myself.de und
zu Maischberger


Neurobiologische und experimentelle Befunde der Zen-Meditation

Eine Übersicht

N.-U. Neumann, K. Frasch
Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik am Bezirkskrankenhaus Günzburg, Abteilung Psychiatrie II der Universität Ulm (Leitung: Prof. Dr. T. Becker)


Zusammenfassung


Schon vor mehr als 15 Jahren fanden Meditation und das meditative Moment der Achtsamkeit Einzug in psychotherapeutische Konzepte. Vornehmlich wird auf Elemente des Zen-Buddhismus zurückgegriffen. Es kommen aber auch zahlreiche andere Meditationsarten zur Anwendung. Bisher fehlt allerdings eine verbindliche und objektive Definition dessen, was Meditation in seiner psychischen und neurophysiologischen Dimension ist. Die fehlende Operationalisierung des Phänomens Meditation ist auch der entscheidende methodische Mangel der bisherigen Untersuchungen. Die Zen-Meditation (Zazen) ist eine definierte Methode mit langer Tradition. Unter dem Gesichtspunkt der neurobiologischen Grundlagenforschung finden sich nur wenige Studien und es liegt nur eine fMRI-Studie vor. Bei sehr unterschiedlichem Design liefern die EEG-Studien keine spezifischen und replizierbaren Ergebnisse. Acht Untersuchungen befassen sich mit psychischen bzw. physiologischen Effekten der Zen-Meditation unter experimentellen Bedingungen Als Ergebnisse finden sich wiederholt Verbesserung von Aufmerksamkeitsleistungen, Förderung emotionaler Stabilität und Milderung stressbedingter psycho-vegetativer Reaktionen. Die weitere experimentelle Meditationsforschung bedarf vor allem einer verbindlichen Definition dessen, was Meditation ist. Außerdem muss klar zwischen neurobiologischen und klinischen „states“ und „traits“ der Meditation unterschieden werden.


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Seit mehr als zehn Jahren befassen sich Grundlagenforschung und Therapie (Psychotherapie) mit Meditation bzw. dem Phänomen des meditativen Zustandes. Ausgehend von den Arbeiten von Kabat-Zinn (1, 2) hat z. B. das „mindfulness-based-stress-reduction“-Programm („achtsamkeitsbasierte Streßreduktion“ – MBSR) große Verbreitung erfahren. Krebskranke, chronische und akute Schmerzpatienten. Anfallskranke, Patienten mit Immunschwäche, Herzkranke, Suchtkranke, Patienten mit Angststörungen, Depression und speziellen Hauterkrankungen, aber auch die allfällig Stressgeplagten sollen von dieser Methode profitieren (3-5). Die Qualitilt der entsprechenden Therapiestudien wird allerdings auch kritisch beurteilt (6).

Insgesamt sprechen die vorliegenden Untersuchungsergebnisse dennoch für eine gewisse therapeutische Effizienz der Meditation, insbesondere auch in Hinblick auf psychische Störungen. Was die neurobiologische Grundlagenforschung betrifft, so liegen mehr als 60 Arbeiten vor, die sich mit elektrophysiologischen Parametern bei Meditierenden beschäftigten und ein Dutzend Arbeiten berichtet über die Ergebnisse bildgehender Verfahren (7).


Meditation ist ein höchst subjektives Phänomen. Die bisher vorliegenden Studien beschäftigten sich mit mehr als einem Dutzend verschiedener Meditationsarten (7, 8). Entsprechend unterschiedlich sind die Ergebnisse. Damit Forschung zu Erkenntnis führt, bedarf es aber der Replizierbarkeit und Vergleichbarkeit von Untersuchungsergebnissen. Es ist beispielsweise nicht geklärt, was genau man unter Meditation – im Hinblick auf die Art der Übung und die subjektive psychische Dimension – zu verstehen hat. Auch ist nicht verstanden, welche spezifischen neuronalen bzw. neurophysiologischen Zustände und Abläufe mit Meditation korrelieren und welche kurz- (states) und langfristigen (traits) psychischen und somatischen Effekte daraus resultieren.


Um Vergleichbarkeit der Befunde zu gewährleisten und die genannten Probleme zu erhellen. werden in dieser Übersicht nur jene Untersuchungen berücksichtigt, welche die gleiche Meditationsart, nämlich Zen-Meditation, zugrunde legten. Therapiestudien mit achtsamkeitsbasierten Methoden sind nicht Gegenstand der Arbeit.



Definition und Tradition der Zen-Meditation

Die Sitzmeditation (Zazen) ist seit Jahrhunderten die elementare und wichtigste Übung im Zen-Buddhismus. Wenn es im Zen überhaupt eine Regel oder Vorschrift gibt, so ist es Zazen. Die Körperhaltung – der Lotussitz (Kekka-Fusa) – und Hilfsmittel wie Sitzkissen (Zafu) und Matte (Zabuton) sind genau beschrieben. Die gesamte Zen-Philosophie und Zazen im Besonderen sind mit der abendländischen intentionalen Lebenshaltung nicht zu vergleichen. Zazen findet nicht statt, um irgendetwas zu bezwecken oder zu erreichen. Es geht „nur“ um das stille Sitzen an sich (Shikantaza). Während der Meditation kann sich ein absichtsloser, emotionsloser, zeitloser, gedankenfreier „ichloser“ Zustand einstellen. Mit der Zen-Praxis wird das Leben von (und in) Stille und Leere möglich. In diesem „gesammelten“ (stillen und leeren) Zustand kann auch eine plötzliche mystische Erfahrung – Satori eintreten. Satori kann als Erleben ursprünglicher universeller Einheit oder als die Aufhebung aller Gegensätze, insbesondere der Trennung von Subjekt und Objekt, verstanden werden (9-12).


Methode

Eine Medline-Recherche der Jahrgänge 1980 bis 2006 lieferte unter den Stichwörtern „zen-meditation, neurophysiology, neuroimaging, psychological, clinical, effects“ sechs Arbeiten zur Neurophysiologie und Bildgebung und acht Arbeiten zu klinischen Effekten, die für unsere Fragestellung verwertbar waren.


Ergebnisse

EEG-Studien

Becker und Shapiro (13) untersuchten den Zusammenhang zwischen Meditation (Transzendentale Meditation, Zen-Meditation, Yoga Mantra Meditation) und Alphawellen-Blockade bzw. Alphawellen-Habituation. In den Untersuchungsgruppen befanden sich Meditationspraktiker mit langjähriger Erfahrung. Die Probanden der beiden Kontrollgruppen wurden zum einen aufgefordert, das Ticken einer Uhr sehr bewusst zu verfolgen („pay strong attention“) zum anderen nicht zu beachten („try not to let the clicks disturb your relaxed state“). Die Meditierenden erhielten keine Anweisung. In der Ausgangssituation bestanden zwischen den Hirnstromkurven der verschiedenen Gruppen keine Unterschiede.

Auf das Experiment bezogen fanden sich Unterschiede zwischen den Kontroll- und den Meditationsgruppen einerseits, aber auch zwischen Yoga-Meditierenden und Zen-Meditierenden andererseits. Yoga-Meditierende zeigten eine vollständige Habituation (fehlende Alphablockierung), Zen-Meditierende keinerlei Habituation. Die Ergebnisse wurden dahingehend interpretiert, dass die Yoga-Meditation zu besonders konzentrierter „Versenkung“ und Abwendung von sensorischen Reizen ,,deeply immersed and removed from sensory experience“) führt und die Zen-Meditation bewirkt, „gesammelt und hellwach von Augenblick zu Augenblick“ zu sein („being more present to the ongoing moment-to-moment sensory experience“). Der „zenmeditative“ Zustand wäre also nicht von „Entrückung“, Weltabgewandtheit und sensorischer Depravation, sondern von hellwacher Präsenz gekennzeichnet. Die Ergebnisse obwohl in einer ähnlichen Studie nicht replizierbar, weisen auch auf den Umstand hin, dass Meditation nicht gleich Meditation ist (14).


Die Kasuistik on Lehmann und Kollegen (15) berichtet über einen Fall, der mittels der „low-resolution electromagnetic tomography algorithm"-Technik (LORETA) untersucht wurde. Beobachtet wurden vier verschiedene meditative Zustände: Visualisation, Mantra (verbalisation), Self-dissolution und Self-reconstruction. Die Gamma-Aktivität zeigte während der verschiedenen Zustände unterschiedliche räumliche Verteilung. In der Visualisierungs- und Verbalisierungsphase nahm das Gamma-Spektrum in der rechten hinteren Okzipitalregion und linken zentral-temporalen Regionen zu. Während der „Self-dissolution-Meditationsphase“ war eher Zunahme der Gamma-Aktivität auch im rechten oberen Frontalgyrus zu beobachten. Experimente zu cannabinoidinduzierte Depersonalisation deuten hin, dass diese Hirnregion für veränderte Beswusstseinszustände und Selbstwahrnehmung von Bedeutung ist (16, 17).


Die Arbeitsgruppe um Murata und Takahashi (18, 19) befasste sich mit Zusammenhängen zwischen EEG-Parametern, vegetativen Funktionen und Persönlichkeitsmerkmalen bei Meditationsanfängern. In der älteren Arbeit (21) wird über 22 gesunde Probanden ohne jegliche Meditationserfahrung berichtet, bei denen neben der Hirnstromkurve die Pulsvariabilität gemessen und eine Angst-Selbstbeurteilungsskala (Spielberger’s State-Trait Anxiety Inventory) angewandt wurde. Während der Meditation zeigte sich bei allen Probanden eine Abnahme langsamer Alphaaktivität in frontalen Abschnitten, eine Zunahme schnellerer Wellen und eine Abnahme des Verhältnisses langsamer zu schnellen Wellen, gepaart mit verlangsamter Pulsfrequenz. Langsamer Alpharhythmus wird als Hinweis für Entspannung, die Zunahme schneller Wellen als Hinweis für vermehrte Aufmerksamkeit interpretiert. Der Angstindex korrelierte negativ mit der prozentualen Abnahme der frontalen Alphaaktivität und positiv mit der prozentualen Zunahme schneller Wellen. Daraus ergibt sich, dass niedrige Angstscores (baseline) eher mit dem meditativen Zustand der Aufmerksamkeit und hohe Scores mehr mit dem Zustand der Entspannung korrelieren. Die psychische Grunderfassung (trait) nimmt demnach Einfluss sowohl auf neurophysiologische Parameter, die während der Zen-Meditation entstehen, als auch auf den resultierenden psychischen Status (state; mehr Aufmerksamkeit oder mehr Entspannung).


Die zweite Untersuchung (19) befasst sich ebenfalls mit jungen gesunden Probanden (n = 20) ohne Meditationserfahrung. Die EEG-Befunde wurden mit den Ergebnissen eines Persönlichkeitsfragebogens (Cloninger’s Temperament and Character Inventory) und Pulsfrequenzen in Korrelation gesetzt. Hohe „novelty seeking scores“ (NS) korrelierten mit der Zunahme frontaler Alphaaktivität (entsprechend dem Status vermehrter Aufmerksamkeit) und relativ hoher Pulsfrequenz, während hohe „harm avoidence scores“ (HA) mit der Abnahme frontaler Thetaaktivität (entsprechend dem Status vermehrter Achtsamkeit – mindfulness“) und niedrigen Pulsfrequenzen korrelierte (immer im Vergleich mit den Ausgangswerten). Die Autoren schließen aus ihren Ergebnissen, dass die subjektiven Phänomene der Achtsamkeit und Aufmerksamkeit zwei wesentliche Merkmale des meditativen Zustands – auf sehr unterschiedlichen psychophysiologischen Vorgängen und Persönlichkeitsmerkmalen basieren können Anders formuliert heißt dies, dass die subjektiven Phänomene Achtsamkeit und Aufmerksamkeit kaum objektivierbar sind.



Event-related-potential Studien

Becker und Shapiro (20) prüften in der bereits zitierten Untersuchung nicht nur EEG-Befunde, sondern – unter dem gleichen experimentellen Setting – auch akustisch evozierte Potenziale. Bezüglich der P300 Amplituden fanden sich zwischen den Gruppen (transzendentale Meditation TM, Zen-Meditation und Yoga-Meditation) keine Unterschiede. Die N100 Amplituden waren bei TM- (transzendentale Meditation) und Yoga-Meditation während der ersten 30 Stimuli erhöht, glichen sich aber nach 40 bis 50 Stimuli den in allen Gruppen gemessenen Amplituden an. Die Autoren vermuten, dass die geschärfte Aufmerksamkeit der entsprechenden Meditationsprobanden diesem vorübergehenden Phänomen größerer sensorischer Empfindlichkeit zugrunde lag (Tab. 1).


Tab. 1: Untersuchungen der Zen-Meditation mit apparativen Methoden: EEG, AEP und fMRI; Abkürzungen: EEG = Elektroenzephalografie, AEP = akustisch evozierte Potenziale, fMRI = functional Magnetic Resonance Imaging, SSTAI = Spielberger’s State-Trait Anxiety Inventory, CTCI = Cloninger’s Temperament and Character Inventory, NS = novelty seeking, HA = harm avoidance, TM = transzendentale Meditation





Bildgebende Verfahren

Mittels fMRI (functional magnetic resonance imaging) untersuchten Ritskes und Koautoren (21) elf zen-meditierende Probanden in Ruhe und während der Meditation. Ruhezustand und Meditation unterschieden sich dahingehend, dass während der Meditation eine Aktivierung im dorsolateralen präfrontalen Kortex (DLPFC), insbesondere rechts und in den bilateralen Basalganglien auftrat. DLPC-Aktivierungen sind nicht meditationsspezifisch. Sie finden sich in den verschiedensten Untersuchungen zu psychischen Funktionen (7, 22, 23). Aktivitätsminderung fand sich im rechten anterior-superioren Okzipitalgyrus und im anterioren Zingulum. Die Aktivitätsminderung im anterioren Zingulum war weniger ausgeprägt als die Aktivitätszunahme im DLPFC und wurde mit dem meditativen (psychischen) Status der Absichtslosigkeit („decreased experience of will“) in Zusammenhang gebracht. Der Befund der zingulären Aktivitätsminderung steht im Gegensatz zu den Ergebnissen nahezu aller anderen Untersuchungen mit bildgebenden Verfahren bei Meditation (7,8). Diesem Befund dürfte eher methodische als meditationsspezifische Besonderheiten zugrunde liegen (7). Aktivitätssteigerung in präfrontalen kortikalen Arealen hingegen ist ein konsistenter Befund der meisten entsprechenden Untersuchungcn (7). Präfrontale Aktivität als Ausdruck vermehrter Aufmerksamkeit (Konzentration) findet sich auch in Untersuchungen. die sich nicht mit Meditation befassten (22, 23). Untersuchungen über neuronale Korrelate willentlicher Beeinflussung emotionaler Zustände deuten auch darauf hin, dass Zusammenhänge zwischen präfrontaler Aktivierung und emotionaler Ausgeglichenheit bzw. verminderter emotionaler Reagibilität (Gleichmütigkeit) bestehen 24, 25). Gleichmütigkeit ist ein zentrales Phänomen (zen-)buddhistischer Geisteshaltung (10-12).


Untersuchungen zu physiologischen und psychologischen Effekten

Tlocznski und Mitarbeiter (26) untersuchten bei Meditationsanfängern, Meditationserfahrenen und Kontrollpersonen die Wahrnehmung optischer Täuschungen (Poggendorf- und Müller-Lyer-lllusion) und die Ausprägung ängstlicher (Taylor Manifest Anxiety Scale) und depressiver Symptome (Beck Depression Inventory). In allen Gruppen nahmen die Fehleinschätzungen mit der Anzahl vorgelegter Abbildungen – insgesamt je fünf Präsentationen – signifikant ab. Meditationserfahrene fielen der optischen Täuschung signifikant seltener zum Opfer als die Probanden der anderen Gruppen, und wenn Korrekturen bei Wiederholungen vorgenommen wurden, so fielen diese moderat aus. Schließlich wiesen die Meditationserfahrenen niedrigere Angst- und Depressionsscores auf. Es wird diskutiert, dass Langzeitmeditation die sensorische Wahrnehmung schärfen und zu emotionaler Ausgeglichenheit führen kann.

Gillani und Smith (27) prüften 59 Probanden mit mindestens sechsjähriger Praxis in Zen-Meditation und 24 Kontrollpersonen mittels verschiedener Inventare (Smith Relaxation States Inventor – SRSI, Smith Relaxation Dispositions/Motivations Inventory – SRD/MI und Smith Relaxation Beliefs Inventory – SRBI). Die Kontrollpersonen hatten die Aufgabe, 60 Minuten in Stille Zeitschriften zu lesen, die Dauer der Meditation betrug ebenfalls 60 Minuten. Danach war das SRI erneut zu bearbeiten. Die Meditierenden zeichneten sich grundsätzlich durch mehr Gelassenheit, Sorglosigkeit und Dankbarkeit aus und tendierten in der Selbsteinschätzung (SRSI) nach der Meditation zu noch mehr Ruhe, Stille, Entspannung und Gelassenheit. Die Autoren sehen durch diese Ergebnisse ihre „ABC-Relaxation Theory“ bestätigt. Diese Theorie impliziert, dass es 15 verschiedene mit Entspannung assoziierte psychische Zustände („R-States“) gibt und dass das Auftreten und die Ausprägung dieser Zustände von individuellen biologischen und psychologischen Parametern abhängt (31). Auch wird betont, dass Zen-Meditation offenbar zu emotionaler Stabilität im Allgemeinen und Entspannung und Gelassenheit im Besonderen beiträgt (Tab. 2).


Tab. 2: Experimentelle Studien zu psychischen und physiologischen Effekten der Zen-Meditation; SRSI = Smith Relaxation States Inventory, SRD/MI = Smith Relaxation Dispositions/Motivations Inventory, SRBI = Smith Relaxation Beliefs Inventory, SSTAI = Spielberger’s State-Trait Anxiety Inventory, CTCI = Cloninger's Temperament and Character Inventory, MDA = Malondialdehyd; NO = Nitratoxid












Im Hinblick auf psychische Parameter sind noch einmal die Untersuchungen von Murata, Takahashi und Kollegen (18, 19) zu erwähnen. In diesen Untersuchungen konnte bekanntlich gezeigt werden, dass einerseits bestehende Persönlichkeitsmerkmale Einfluss auf die Qualität des meditativen Zustands und neurobiologische Parameter nehmen und Meditation andererseits zumindest kurzfristig zu individuell unterschiedlichen psychischen Effekten führt.

Peng und Koautoren (29) untersuchten, welchen Einfluss unterschiedliche Atemtechniken (während der Meditation) auf die Herzfrequenz nehmen. Pulsfrequenz und Atemexkursionen der zehn meditationserfahrenen Probanden wurden simultan aufgezeichnet. Die verschiedenen Atemtechniken waren „relaxation response“ (RR), „breath of fire“ (BF) und „segmented breathing“ (SB). „RR“ und „SB“ sind langsame, gleichmäßige und sehr konzentrierte Atemtechniken, die der für Zen-Meditation typischen Atmung entsprechen. Puls- und Atemaufzeichnungen waren bei RR und SB nahezu identisch. Die Frequenzen nahmen ab, die respiratorische Arrhythmie und die kardiorespiratorische Synchronisation nahmen zu. Unter BF nahm die Herzfrequenz zu und die Puls-Atem-Synchronisation deutlich ab. Änderungen der Atemtechnik während der Meditation nehmen also Einfluss auf Herzfrequenz, Sinusrhythmus und kardiorespiratorische Synchronisation. Nicht die Art der Meditation, sondern die Atmung bestimmt diese Parameter und Zusammenhänge.


Eine ähnliche Studie führten Cysarz und Bussing (30) durch. Auch sie untersuchten den Einfluss der Zen-Meditation auf die kardiorespiratorische Synchronisation und die respiratorische Sinusarrhythmie (RSA). Die Versuchspersonen (n = 9) hatten keine Meditationserfahrung. EKG-Ableitung und Atemfrequenzbestimmung erfolgten simultan unter vier verschiedenen Bedingungen: Spontanatmung, mentale Aufgabe, Sitzmeditation (Zazen) und Gehmeditation (Kinhin). Während der Sitz- und Gehmeditation kam es, neben einer deutlichen Abnahme von Puls- und Atemfrequenz, auch zu einer ausgeprägten Synchronisation von Herzschlag und Atmung. Mit Verlangsamung der Atemfrequenz nahm die respiratorische Arrhythmie zu. Eine kardiorespiratorische Synchronisation ebenso wie Puls- und Atemverlangsamung stellen sich offenbar während der Zen-Meditation auch bei Ungeübten rasch ein.


Kim und Kollegen (31) prüften den Einfluss der Zen-Meditation auf die Serum-Nitratoxid-Aktivität (NO) und den oxidativen Stress (Lipidperoxidation). Es wurden zwei nach Alter und Geschlecht angeglichene Gruppen (n = 20) – eine mit erfahrenen Meditationspraktikern und eine mit Kontrollpersonen gebildet. Im Serum der Meditierenden fanden sich signifikant höhere Nitrat- und Nitritkonzentrationen und niedrigere Malondialdehydkonzentrationea (MDA) als bei den Kontrollen. Hohe MDA- und niedrige NO-Konzentrationen als Folgen des oxidativen Stress gelten unter anderem als Risikofaktoren für Alterungsprozesse und kardiovaskuläre Erkrankungen. Die Befunde deuten darauf hin, dass Zen-Meditation zur Risikominimierung (Prävention) von Alterungsprozessen, Krebserkrankungen und Herz-Kreislauferkrankungen beitragen könnte.



Diskussion

Zur experimentellen Meditationsforschung und zu Untersuchungen mit elektrophysiologischen und bildgebenden Verfahren im Allgemeinen liegen mehrere Publikationen vor (7). Der spezifische meditative Zustand wird ganz allgemein auch als veränderter Bewusstseinszustand („altered state of consciouness“) bezeichnet (32-36). Mit dieser Umschreibung sind die Besonderheiten des „meditativen Status“ (der meditativen Erfahrung) jedoch nicht hinreichend charakterisiert. Seit jeher wird betont, dass sich die psychische Dimension der meditativen Erfahrung der Beschreibung mit bekannten Begriffen entzieht. Es heißt, Zen-Meditation kann nur subjektiv erfahren, nicht objektiv dargestellt werden (10, 11, 35, 36). Zen-Meditation ist die am wenigsten untersuchte der verschiedenen Methoden. Zen-Meditation ist ein uraltes, spirituelles Ritual. Dass dieses Verhalten mit spezifischen zumindest speziellen – neuronalen Funktionen und einer besonderen Wahrnehmung des Selbst und der Außenwelt einhergeht, scheint selbstverständlich und bedürfte an sich nicht der wissenschaftlichen Überprüfung. Wissenschaftliche Überprüfung kann jedoch zu Erkenntnisgewinn führen und eventuell können diese Erkenntnisse für medizinische Zwecke nutzbar gemacht werden. Es sei aber – noch einmal – darauf hingewiesen, dass solche Überlegungen in keiner Weise dem Geist der Zen-Philosophie entsprechen. Zazen ist absichtsloses „nur Sitzen“. Es geht dabei nicht um Heilung, Besserung, Erkenntnis, Erfahrung oder irgendeine Absicht (9, 10, 35, 37). Die Meditation, während der ein spezifischer Bewusstseinszustand (meditative Erfahrung) eintreten kann, muss – jahrelang – geübt werden. In diesem Punkt scheinen sich alle Meditationsexperten, gleich welcher spirituellen Richtung sie angehören, einig zu sein. Allerdings ist mit nichts belegt, dass Einzelne nicht schon nach kurzer Zeit zur „meditativen Erfahrung“ gelangen können. So kann das zentrale Phänomen des „Satori“ (Erleuchtung) nach Zen-buddhistischer Überzeugung nicht nur in vollkommener Meditation, sondern in jedem beliebigen Augenblick erfahren werden (11, 35). Für wissenschaftliche Fragestellungen sollte bei der Auswahl der Probanden allerdings auf langjährige Meditationserfahrung geachtet werden (38). Wenn man auf neurofunktioneller und psychischer Ebene nach dem „Spezifischen“ des meditativen Zustandes sucht, wird man es nur finden, wenn es tatsächlich vorliegt.

Die verschiedenen elektrophysiologischen Untersuchungen haben ein völlig unterschiedliches Design und unterschiedliche Fragestellungen, entsprechend unter schiedlich sind die Ergebnisse. An psychologischen und physiologischen Besonderheiten liefern die Studien, dass Zen-Meditation mit akzentuierter Vigilanz (13, 18, 19) bzw. mit erhöhter Aufmerksamkeit einhergeht und – in einem Fall – Gammawellenaktivität über einer Hirnregion produziert wurde, die – wie aus anderen Untersuchungen bekannt – bei veränderten Bewusstseinszuständen aktiv sein soll (IS). Die Studien von Murata, Takahashi und Koautoren (18, 19) lassen Schlüsse über die Zen-Meditation nur bedingt zu, da ausschließlich Meditationsnovizen untersucht wurden. Zumindest kann über „traits“ der Meditation nichts gesagt werden. Die gefundenen „states“ decken sich mit den Ergebnissen von Becker und Shapiro (13) insofern, als dominierender Alpharhythmus offenbar mit dem psychischen Status vermehrter Aufmerksamkeit korrespondiert. Erstaunlicherweise scheinen Persönlichkeitsmerkmale Einfluss auf die Qualität des meditativen Status, die damit einhergehende Hirnstromkurve und die Herzfrequenz zu nehmen.


Hohe Angst-Spannungs-Scores führten während der Meditation eher zu Entspannung, schnelleren EEG-Wellen und Pulsverlangsamung, niedrige Scores zu verstärkter Aufmerksamkeit, ausgeprägtem Alpharhythmus und Pulsbeschleunigung. Auch die Merkmale „novelty seeking“ und „harm avoidance“ wirkten sich auf den psychischen Status, das EEG und die Herzfrequenz aus. „NS“ soll während der Meditation eher mit geschärfter Aufmerksamkeit, höherer Ausprägung des Alpharhythmus und schnellerer Pulsfrequenz, „HA“ mit Abnahme frontaler Thetaaktivität, Achtsamkeit („mindfulness“) und Pulsverlangsamung korrelieren. Die subjektive Wahrnehmung während der Meditation war durchgehend bei allen Probanden von Wachheit, Aufmerksamkeit und Entspannung charakterisiert, obwohl sich Hirnstromkuren und Herzfrequenzen zum Teil deutlich unterschieden. Subjektives Empfinden kann demnach von sehr unterschiedlichen objektiven Messgrößen begleitet werden. Diese Ergebnisse sprechen unter anderem dafür, dass die psychische Dimension der meditativen Erfahrung sehr schwer zu operationalisieren ist. Auf dieses Problem haben auch Cahn und Polich in ihrer umfangreichen Übersichtsarbeit hingewiesen (7). In der fehlenden Definition dessen, was Meditation ist, sehen sie die entscheidende Schwäche der bisherigen Meditationsforschung, „given the wide range of possible meditation methods and resulting states, it seems likely that different practices will produce different psychological effects and that different psychological types will respond with different psychobiological alterations“ (7).


Die EEG-Befunde bei Zen-Meditation decken sich im Wesentlichen mit denen, die bei anderen Meditationstechniken gefunden wurden. Konsistente Befunde sind Zunahme von Theta- und Alphaaktivität und generell verstärkte Ausprägung langsamer Frequenzen (7). Meditationsspezifisches ist damit nicht erfasst, denn diese Muster finden sich typischerweise auch in der Einschlafphase (38, 39). Ein Unterschied besteht freilich im Bereich der psychischen Dimension schläfrig versus hellwach, während sich die neurophysiologischen Parameter (Hirnstromkurven) erstaunlicherweise nicht unterschieden. Vermutlich ist die feine Differenzierung und Lokalisation (topograhic mapping) der Frequenzen zwischen Meditations-EEG und Einschlaf-EEG noch nicht gelungen (7).


Die Ergebnisse der fMRI-Studie von Ritskes und Mitarbeitern (21) lassen mit Sicherheit keine Verallgemeinerungen zu. Aber auch, wenn man die Ergebnisse aller Studien (mit bildgebenden Verfahren) der verschiedensten Meditationstechniken betrachtet, ist festzustellen, dass kein Ansatz die neurophysiologischen Besonderheiten charakterisiert und identifiziert hat, die verständlich machen würden, wie und warum Meditation die (Selbst-)Wahrnehmung verändert (7). Meditationsspezifische neuronale Aktivitätsmuster konnten mit Hilfe bildgebender Verfahren bisher nicht identifiziert werden. Als konsistenter Befund ist vermehrte präfrontale Aktivität beschrieben worden (7, 8). Dieser Befund, der mit dem psychischen Status der Aufmerksamkeit korreliert, ist aber nicht nur bei Meditation, sondern auch bei anderen psychischen Funktionen zu beobachten (23-25). Das neuronale Muster der „typischen meditativen Erfahrung“, nämlich verändertes Bewusstsein („Erleuchtung“), Grenzenlosigkeit, Zeitlosigkeit und Ichlosigkeit ist damit nicht identifiziert.


Die Ergebnisse der experimentellen Untersuchungen zu psychologischen und physiologischen Aspekten tendieren vor allem in die Richtung, dass Zen-Meditation mit Parametern der psycho-vegetativen Entspannung (state) korreliert (18, 19, 27, 29, 30). Langjährige Übung scheint daräberhinaus mit grundsätzlich niedrigen Angst- und Depressionsscores (trait) zu korrelieren. Die Ergebnisse der Studie von Tlocznski und Kollegen (26) sind mit denen von Becker und Shapiro vergleichbar (13). Geschärfte sensorische Wahrnehmung und geschärfte Aufmerksamkeit scheinen nicht nur ein „state“ der Zen-Meditation zu sein, sondern auch ein „trait“.


Design und Fragestellung der Arbeiten von Kim und Kollegen (31) sind spezieller Natur. Dass Meditation Einfluss auf biochemische Parameter des oxidativen Stress nimmt, erscheint nachvollziehbar und eröffnet prinzipiell therapeutische Aspekte mit Blick auf Herz-Kreislauferkrankungen. Die Ergebnisse wurden jedoch nicht repliziert und bedürfen einer Überprüfung.


Zen-Meditation korreliert erwartungsgemäß mit einigen typischen, aber nicht spezifischen neurophysiologischen und physiologischen Effekten und Messgrößen. Ganz allgemein gelingt bisher aber weder mit Hilfe elektrophysiologischer noch bildgebender Verfahren eine Differenzierung zwischen meditativem Status und Einschlafphase bzw. meditativem Status und Aufmerksamkeit (7). Dies überrascht, da Zen-Meditation weder etwas mit Schläfrigkeit noch mit Aufmerksamkeit und Konzentration (zumindest sind diese nicht beabsichtigt) zu tun hat. Man würde also vermuten, dass sich Zen-Meditation sehr wohl von Schläfrigkeit differenzieren lässt und in bildgebenden Verfahren würde man eine Abnahme neuronaler Aktivität in Arealen erwarten, die mit bewusstseinsnahen intentionalen – motorischen und psychischen – Vorgängen korrespondieren. Die bisherigen Untersuchungsbefunde entsprechen diesen Erwartungen jedoch nicht.


Das Forschungsproblem liegt sicher nicht nur darin, geeignete Untersuchungstechniken zu finden, sondern vor allem in der schwierigen Definition dessen, was unter Meditation aus phänomenologischer Sieht zu verstehen ist. Meditation ist nicht in dem Sinne zu objektivieren wie andere psychische Zustände oder geistige Leistungen. Der Untersucher kann sich nicht sicher sein, ob das untersuchte Individuum im „meditativen Zustand“ ist, was auch immer aus subjektiver Sicht darunter verstanden mit. Möglicherweise gibt es auch sowohl aus Sicht subjektiver Erfahrung als auch aus Sicht identifizierbarer neuronaler Aktivität verschiedene meditative Zustände. Die Untersuchung der Zen-Meditation muss nicht zwangsläufig zu den Ergebnissen führen. wie z. B. die Untersuchung der Kriya Yoga-, Raj Yoga-, Sahaja Yoga- und Kundalini Yoga-Meditation oder der transzendentalen Meditation. Spezielle (aber nicht spezifische) Muster neuronaler Aktivität und spezielle physiologische Parameter der Körperperipherie, z. B. der Atmung und Herzfrequenz, finden sich bei allen Meditationsarten, deren genaue Bedeutung unter therapeutischen Gesichtspunkten ist jedoch nicht geklärt (7). Dennoch sind Meditation und Elemente zen-buddhistischer Lebenspraxis (Achtsamkeit) schon seit längerer Zeit wesentliche Bestandteile westlicher verhaltenstherapeutischer Methoden (1, 2, 4, 41-43). Die (neuro)biologische Grundlagenforschung der Meditation hinkt hinter der empirisch basierten therapeutischen Implementierung her und bedarf weiterer kluger Untersuchungen.


Literatur




























aus Nervenheilkunde 3/2008
(die Rechtschreibung habe ich vorsichtig verbessert)


Es tut sich was: Als ich 1987 bei den Lindauer Psychotherapiewochen in einer Veranstaltung das Wort Meditation erwähnte, guckten mich Leiter und Teilnehmer an, als ob ich ein Junkie wäre, der sich unberechtigterweise reingeschlichen hätte. Damals wurde Meditation einzig als Regressionsversuch verstanden: Weltflucht, zurück in den Uterus, unendliche Glückseligkeit als Versuch, der Verantwortung für sich selbst zu entfliehen. Wiewohl es nach so vielen Jahren gar nicht mehr der Punkt ist: Wenn durch ein EEG (fehlende Habituation, siehe oben unter EEG-Studien) nachgewiesen werden kann, daß der Bewußtseinszustand des Probanten »hellwach« ist, kann man ihm nicht mehr Trancegier oder sonst eine »Republikflucht aus der Realität« vorwerfen. Es wird auch deutlich, daß sich auf unbekannte Phänomene, die Angst hervorrufen, unter dem Deckmantel von Wissenschaftlichkeit beliebige Etiketten draufkleben lassen, um sich nicht mit ihnen beschäftigen zu müssen. Eine alte Regel bewahrheitet sich: Die Alten müssen aussterben, damit das Neue seinen Platz findet. Die Leute, mit denen damals zu diskutieren war, hatten in ihren Koordinatensystemen keinen Platz und keine Kriterien für das Neue. Jetzt sind andere Leute da. In einem Interview sagte Satyananda über Osho: »Er ist seiner Zeit um mindestens 50 Jahre voraus. Aber immer mehr Menschen sehen in ihm das, was er von Anfang an war: einen Weisen, der die Antworten auf viele existenzielle Fragen unserer Zeit hat. Seine Bücher erzielen weltweit Millionenauflagen. Sein Gesamtwerk ist vor zwei Jahren in die Bibliothek des indischen Parlaments aufgenommen worden - eine Ehre, die bisher nur noch Mahatma Gandhi zuteil geworden ist. Ein deutliches Zeichen dafür, dass Osho zumindest in Indien angekommen ist und ernst genommen wird.« (www.oshofreiburg.de)

So hilflos obiger Artikel auch erscheinen mag, er ist mutig dahingehend, etwas mit Hilfe der zur Verfügung stehenden wissenschaftlichen Kriterien bewerten zu wollen und nun nicht den alten Weg geht, darin einen Mangel des Untersuchungsobjekts zu sehen, sondern die Eingeschränktheit der wissenschaftlichen Kriterien konstatiert. Das nenne ich Wissenschaft: Mutig genug zu sein, seine Hilflosigkeit zugeben zu können. Das ist klares Denken, das ist Objektivität! Unser Denken hat sich der Realität anzupassen und nicht umgekehrt.

Anfang der 80er nadelte mich ein inzwischen verstorbener Gießener Orthopäde wegen einer schon seit drei Monaten andauernden therapieresistenten Achillodynie. Nachdem er die Nadeln nach einer Viertelstunde aus meinem Bein rausgezogen hatte, hüpfte ich lachend im Therapiezimmer herum: sämtliche Beschwerden waren wie weggeblasen (und blieben es auch). Daraufhin er: »Erzählen Sie’s nur nicht weiter, Herr Kollege!«




Das Wirken der Natur zu kennen, und zu erkennen, in welcher Beziehung das Menschliche Wirken dazu stehen muss: Das ist das Ziel.

Tschuang Tse (Zhuangzi)
chinesischer Philosoph und Schriftsteller, daoistischer Heiliger (ca. 365 – 290 v. Chr.)
(angeregt zu dem Zitat hat mich konfusius, Danke!)


Depression von Männern wird häufig verkannt

GESUNDHEITSREPORT Starkes Geschlecht schwächelt bei der Vorsorge

Gewalt-, Risikobereitschaft und Wutausbrüche können bei Männern auf Depressionen hinweisen. Hausärzte sollten sich dessen bewusst sein.

























Diagnose Depression? Hausärzte sollten bei ihren männlichen Patienten noch aufmerksamer sein, denn die Krankheit bleibt bei ihnen häufiger unerkannt als bei Frauen. Das starke Geschlecht neige dazu, depressive Symptome nicht wahrzunehmen, sie zu bagatellisieren oder zu verleugnen. Auch zeigten Männer bei der Erkrankung andere Anzeichen, heißt es bei der Vorstellung des Gesundheitsreports 2008 der Deutschen Angestellten Krankenkasse (DAK).

Genannt werden Aggressionen, erhöhte Risikobereitschaft und Wutausbrüche. Im Gegensatz dazu verhalten sich depressive Frauen eher passiv und traurig. Haus- und Betriebsärzte sollten sich dem Thema Männerdepression stärker zuwenden, appelliert die DAK. Dem Kassenreport zufolge, der sich in diesem Jahr ausführlich mit „Männergesundheit“ auseinandersetzt, sind psychische Erkrankungen bei den männlichen Patienten auf dem Vormarsch.

Weitere Erkenntnisse aus dem DAK-Bericht: Männer fühlen sich gesünder als Frauen, sterben aber rund fünf Jahre früher. […]

Die subjektive und die objektive Gesundheit scheinen bei Männern gelegentlich erheblich auseinanderzuklaffen. Das zumindest legen einige Daten aus dem vom IGES Institut erstellten Report nahe. So sorgen Herz-Kreislauf-Erkrankungen bei Männern für fast doppelt so viele Fehltage (5,8 Prozent) wie bei Frauen (3,3 Prozent). Die Krankheitstage aufgrund von Herzinfarkt übertreffen die der Frauen um das Fünffache. An Lungenkrebs und alkoholbedingter Leberkrankheit sterben mehr als doppelt so viele Männer wie Frauen. Das starke Geschlecht war 2007 zudem rund fünfmal häufiger wegen Schlafstörungen im Krankenhaus.

Weiter auffällig ist, dass Männer öfter von Unfällen im Beruf, Straßenverkehr oder Freizeit betroffen sind.

Den objektiven Daten zum Trotz: „Männer fühlen sich subjektiv viel gesünder als Frauen“, sagt IGES-Geschäftsführer Hans-Dieter Nolting.

aus Ärztliche Praxis Nr. 9, 26.2.08

Psyche, Tabletten und – na was wohl? – eine Alternative!

Wenn Prozac nix bringt und Psychotherapie auch nix bringt, hier ist die Alternative:



Vielen Dank, Frau M.!

GEK-Report: Nützt Psychotherapie?

Von Frau Ursula Neumanns Seite:
(Bevor man sich ans Lesen macht, kann man sich selbiges vielleicht sparen, wenn man sich gleich die letzten vier Absätze des Posts ansieht.)

Die GEK machte Furore mit ihrem jüngsten Gesundheitsreport, in dem die Psychotherapie verdammt schlecht weg kam.

Das kann man nicht so stehen lassen. Auf einen kaum vorhandenen Erfolg zu schließen, weil – so das Untersuchungsdesign – weil nach einer Psychotherapie die in den Monaten zuvor angestiegenen Arzbesuche, Medikamenteneinnahme und Klinikaufenthalte praktisch „lediglich“ wieder auf den Wert vor dem Anstieg gesunken sind, ist etwa so sinnvoll, wie aus der Tatsache, dass ich nach vollzogener Zahnsanierung wieder genauso selten zum Zahnarzt gehe, wie die Jahre vorher.

Oder um es noch konkreter zu machen: Ist meine Mamma-Carcinom- OP deshalb nicht sonderlich effektiv gewesen, weil ich heute immer noch ein bisschen öfter in einer Arztpraxis zu finden bin als vor der Diagnose?

Dass zudem der Prof, der das ganze untersuchte, sich vor Jahren mit der Forderung hervortat, die Psychotherapie als Lifestyle-Wellness-Produkt aus dem Leistungskatalog der Krankenkassen zu kicken, sollte bei einem anständigen Forscher eigentlich dazu führen, dass er sich selbst in dieser Frage für befangen erklärt.


Ärzte Zeitung, 20.02.2008

Hilft Psychotherapie zu wenig? - Verbände und Kasse im Streit

[Es erscheint mir sinnvoll, auf die Wikipedia-Definition von »Helfen« zu verweisen. Beachte 3. Abs., Satz 1; der Wikipedia-Artikel verweist auch auf »pluralistische Ignoranz«; von dort geht es zu »Verantwortungsdiffusion«; Bemerkung von panther]

Massive Kritik an Gesundheitsreport 2007 der Gmünder Ersatzkasse / Therapeutenverbände hinterfragen Form und Inhalt der Untersuchung

BERLIN. Wenn es um die Wirksamkeit psychotherapeutischer Verfahren geht, werden Untersuchungen zu diesem Thema besonders kritisch betrachtet. Wenn dann noch die These vermittelt wird, dass solche Verfahren den Gesundheitszustand der Patienten nicht oder nur kaum verbessern, wie dies der Report 2007 der Gmünder Ersatzkassen nahelegt, ruft das erst recht Psychotherapeuten auf den Plan.

Von Wolfgang van den Bergh

Die Gmünder Ersatzkasse (GEK) hat in ihrem "Report 2007" die ambulante ärztliche Versorgung unter die Lupe genommen. Dabei lag der Schwerpunkt auf der ambulanten Psychotherapie als Kassenleistung. In Auftrag gegeben wurde die Untersuchung beim Institut für Sozialmedizin, Epidemiologie und Gesundheitssystemforschung in Hannover unter dem Vorsitz von Professor Friedrich Wilhelm Schwartz. Für die GEK steht danach fest: "Die ambulante Psychotherapie hat keine deutlich nachweisbaren positiven Wirkungen."


Wissenschaftler stellen nur leichte positive Effekte fest

Untersucht wurde, wie sich ambulante Psychotherapien auf die Häufigkeit von Arztbesuchen, auf Arzneimittelverschreibungen und auf die Verweildauer im Krankenhaus auswirken. Grundlage dazu lieferten versichertenbezogene Daten, die seit der Gesundheitsreform 2004 den Kassen von den KVen zur Verfügung gestellt werden müssen. Der Beobachtungszeitraum betrug vor der Psychotherapie mindestens zwei Quartale und danach sechs Quartale. Das Fazit der Studienautoren fällt zwar nicht so drastisch aus, wie der Rückschluss der GEK, gibt jedoch die Tendenz eindeutig vor: "Nach den vorliegenden Auswertungen zeigen sich allerdings ggf. nur eher leichte und nicht durchgängig beobachtete Effekte auf die Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen nach Therapiebeendigungen ab." Diese Aussage will der Bundesverband der Vertragspsychotherapeuten (bvvp) so nicht stehen lassen. In einer Stellungnahme heißt es, dass die Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen - wie Arztbesuche, Medikamenteneinnahe und Klinikaufenthalte - in den letzten Monaten vor Aufnahme der Psychotherapie regelmäßig deutlich stieg, um dann wieder abzufallen auf einen Wert, der meist etwas unter dem Ausgangswert liegt. Hier nur von einem "geringen Erfolg" zu sprechen, will der bvvp nicht akzeptieren.

Deutsche Psychotherapeuten Vereinigung und bvvp verweisen in getrennten Stellungnahmen darauf, dass nicht nur der Status quo ante wieder erreicht wurde, sondern dass in der Psychotherapiegruppe gegenüber der Vergleichsgruppe die Zahl der Arztbesuche und die Einnahme von Medikamenten zurückgegangen seien und sich die Zahl der Krankenhausaufenthalte sogar deutlich verringert habe.

Kritisiert wird auch, dass außer den Parametern Arztbesuch, Arzneiverschreibungen und Klinikaufenthalt nicht untersucht worden sei, ob und in welchem Ausmaß Psychotherapie die psychischen Krankheiten der Patienten vermindert. Dazu der Chef der Vereinigung Dieter Best: "Wenn schon Aussagen zur Wirksamkeit der Psychotherapie getroffen werden, hätte der GEK-Report dieser Frage nachgehen müssen. Zumindest hätten die Schlussfolgerungen aus den Daten einer differenzierten Analyse bedurft."

Roland Deister vom bvvp widerspricht auch der ökonomischen Kritik der Autoren mit Blick auf die gestiegene Inanspruchnahme von Psychotherapien in den Jahren 2000 bis 2006 um 61 Prozent. Deister: "Es fällt dabei unter den Tisch, dass dies nur ein Zuwachs von 0,33 Punkten, nämlich von 0,55 Prozent auf 0,88 Prozent der gesamten Versicherten bedeutet." Der nachgewiesene Bedarf in der Bevölkerung liege aber mindestens bei sieben Prozent.


Verbände kritisieren Psychotherapie-Kritiker

Beide Verbände gehen noch einen Schritt weiter und bewerten die Untersuchung als einen Versuch, die ambulante Psychotherapie zu diskreditieren. Das machen bvvp und Vereinigung vor allem an dem Mitautor der Studie fest. Professor Schwartz, früherer Vorsitzender des Gesundheits-Sachverständigenrates und heute Chef des beauftragten Instituts, gilt als Kritiker der Psychotherapie als Kassenleistung.

Beide Verbände verweisen dabei auf ein internes Papier, über das die "Ärzte Zeitung" im Jahr 2000 berichtet hatte. Darin spricht sich Schwarz dafür aus, dass "Psychotherapie-Leistungen und Lifestyle-Arzneimittel gesondert und wettbewerblich und nicht obligatorisch versichert werden sollten". Ein Vorschlag, der in Vorbereitungen für weitere Gesundheitsreformen so nicht mehr aufgegriffen wurde.

Einig ist man sich jedoch mit den Autoren in der Erkenntnis, dass Auswertungen zur Effektivität von ambulanter Psychotherapie im Rahmen der Versorgungsforschung wichtig sind. Deister: "Das ist dringend erforderlich - und zwar nicht nur die Kurzzeittherapie, sondern auch die Langzeittherapie." Unterdessen haben beide Verbände die Führungsspitze der GEK zu Gesprächen aufgefordert. In der nächsten Woche findet ein Treffen mit dem bvvp statt. Weitere Infos zur Studie unter www.GEK.de; (Presse)


Gesundheitszustand kaum verbessert

In einem Statement zum Report schreibt Professor Friedrich-Wilhelm Schwartz: "Der vielleicht maßgeblichste Befund der bis jetzt durchführbaren Auswertungen zu Behandlungsverläufen ist bei ambulanten Kurzzeittherapien die Beobachtung, dass das Niveau der Inanspruchnahme von gesundheitlichen Leistungen auch in unterschiedlich definierten Subgruppen von Patienten zwei Jahre nach Genehmigung überwiegend nicht von dem Ausgangsniveau abweicht, welches in den entsprechenden Gruppen ein Jahr vor der Genehmigung erfasst wurde. Gemessen daran, finden sich bei den Patienten mit (...) genehmigter Psychotherapie also kaum greifbare Hinweise auf eine maßgebliche Veränderung des Gesundheitszustandes im Therapieverlauf innerhalb der betrachteten drei Jahre."

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Es ist natürlich etwas viel, und das ist ja auch der Sinn der Sache. Deshalb für Lesefaule drei Punkte herausgegriffen:

1. Der GEK-Report weist nach, daß die Patienten vor einer Kurzzeitpsychotherapie 4,72mal so viele Medikamente schluckten wie zwei Jahre danach.


























2. Der Report weist nach, daß Patienten 9 Monate nach einer Psychotherapie genausoviel Krankenhaustage in Anspruch nehmen wie eine Vergleichgruppe. Daß dem dargestellten Diagramm (GEK-Report, S. 204) aber zu entnehmen ist, daß Psychotherapiepatienten vorher das 4,4Fache an Krankenhaustagen in Anspruch nahmen, wird nicht erwähnt.

Zu Punkte 1 und 2 vergleiche man den letzten Absatz in obigem Artikel (Zitat Prof. Schwartz, kursiv von mir).
Die Gmünder Ersatzkasse hatte Prof. Schwartz mit der »Studie« beauftragt. Dieser rief 2000 bei den Psychotherapeuten Empörung hervor, als er Psychotherapie mit Lifestyle-Arzneimitteln gleichsetzte und forderte, »beide sollten gesondert wettbewerblich und nicht obligatorisch versichert werden«. (Ärzte-Zeitung vom 27.4.2000, zitiert nach Stellungnahme der Deutschen Psychotherapeuten-Vereinigung zum GEK-Report 2007 vom 11.12.07) Die Schlußfolgerung von Prof. Schwartz ignoriert die Aussagen aus der statistischen Aufbereitung der Daten: Das Niveau der Inanspruchnahme von gesundheitlichen Leistungen duch Psychotherapiepatienten weiche zwei Jahre nach Genehmigung überwiegend nicht von dem Ausgangsniveau ab, und es gebe kaum greifbare Hinweise auf eine maßgebliche Veränderung des Gesundheitszustandes. Das hat mit Wissenschaftlichkeit nun wirklich nichts zu tun.
Wir dürfen uns also nach der Motivation der Gmünder Ersatzkasse fragen. Ich rate mal: die haben einfach jemand Profilierten mit der »Studie« betraut und sich nicht weiter gekümmert.
Fragen wir aber nach der Motivation von Prof. Schwartz, darf man mit Fug und Recht annehmen, daß er entweder seine eigene Studie nicht richtig gelesen hat oder sich im Mainstream der Entsolidarisierung des deutschen Gesundheitswesens vor dem Hintergrund eines scheinbaren Neoliberalismus als Gesundheitspolitiker profilieren will. Auf seinen weiteren Werdegang dürfen wir gespannt sein.
Und jetzt stellen wir uns einen Gesundheitspolitiker vor, der den Gutachter, der ihm grad ein 200 Seiten starkes Machwerk auf den Tisch legt, fragt: »Was ist denn dabei rausgekommen?« Gutachter: »Bringt nix.« Was wird dann wohl passieren?

3. Die Autoren des Reports verweisen auf eine um 61 Prozent gestiegene Inanspruchnahme von Psychotherapien in den Jahren 2000 bis 2006. Roland Deister vom bvvp (Verband der Vertragspsychotherapeuten): "Es fällt dabei unter den Tisch, dass dies nur ein Zuwachs von 0,33 Punkten, nämlich von 0,55 Prozent auf 0,88 Prozent der gesamten Versicherten bedeutet." Der nachgewiesene Bedarf in der Bevölkerung liege aber mindestens bei sieben Prozent.
Frage also: Cui bono?

Ich verweise noch auf einen älteren Artikel vom November 2006

Zur Stellungnahme des Verbandes psychologischer Psychotherapeuten

Zu einer weiteren, sehr dezidierten Stellungnahme von Rudolf Sponsel (hier kann auch der GEK-Report heruntergeladen werden)

Das hier wäre vielleicht eine Alternative

Letzte Frage: Bei wem macht ein Report solcher Qualität Furore?

ADHS – Psychodynamik

Aus gegebenem Anlaß:

Die Pharmaindustrie hat es – mit Unterstützung der Ärzte und Familien, die es sich leicht zu machen versuchen – geschafft, darauf hinzuarbeiten, daß, wenn der Begriff ADHS steht, man sofort an Ritalin denkt. Insgesamt ist festzustellen, daß die hirnbiochemischen Erklärungsmodelle psychischer Störungen wieder auf dem Vormarsch sind. (Wie sollte das in unserer instant-und-light-Zeit auch anders sein?) Es ist mir wichtig festzuhalten, daß die psychodynamischen Hintergründe nicht übersehen werden dürfen.

Dazu einige Auszüge aus einem Grundsatzartikel. Aus Gründen der Lesbarkeit habe ich auf die im Text natürlich erwähnten Quellenangaben verzichtet. Auch die Hinweise auf die Hirnbiochemie habe ich weggelassen. Wer eine Übersicht sucht, gehe zu Wikipedia.

Die Prävalenz wird – je nach Strenge der angelegten Diagnosekriterien – mit 1 bis 7 Prozent angegeben.

[…] Auf der anderen Seite steht ein Beziehungs- oder soziales Modell, das den Einfluss familiärer oder sonstiger Belastungen, aber auch die generelle soziale Umwelt, in der ein Kind aufwächst, als wesentliche Faktoren konzipiert. Zunächst einmal ist es eine banale Feststellung, dass akute, vor allem aber chronisch anhaltende psychosoziale Belastungen dazu führen, dass ein Kind sich möglicherweise schlechter konzentrieren kann, sich zurückzieht oder mit psychomotorischer Unruhe und weiteren Verhaltensauffälligkeiten reagiert. Die Kriterien der lCD 10 binden daher die Diagnose einer ADHS an die Einschränkung, dass die Störung bereits vor dem 6. Lebensjahr vorhanden gewesen sein muss und nicht durch andere – beispielsweise psychosoziale – Ursachen erklärbar ist. Damit wird versucht, eine Verkennung eines ganz ähnlich erscheinenden Symptombildes, das jedoch aus akuten psychischen oder sozialen Belastungen resultiert, als hirnfunktionell verstandene Aufmerksamkeitsdefizithyperaktivitätsstörung zu vermeiden. Leider werden diese Ausschlusskriterien in der Praxis häufig großzügig übersehen.

Es gibt auch zur Bedeutung des hier so genannten Beziehungs- oder sozialen Modells eine Fülle von Belegen, was insbeson dere dann nicht verwundert, wenn das oben erwähnte Ineinandergreifen psychosozialer und somatischer Faktoren bei der Herausbildung und Organisation neuronaler Netzwerke ernst genommen und als sich gegenseitig beeinflussendes Wechselverhältnis begriffen wird. Beispielhaft sei nur angeführt, dass Christakis et al. feststellten, dass pro Stunde täglichem Fernsehkonsum vor dem 3. Lebensjahr das Risiko des Auftretens einer Aufmerksamkeitsstörung im Schulalter um 10% steigt. Auch in der psychotherapeutisch orientierten Literatur wird mit einer Fülle von Fallbeispielen deutlich gemacht, wie stark Symptomatik, familiäre Prozesse und innere Konfliktsituationen ineinander greifen. Stern konnte Mechanismen aufzeigen, die es verständlich machen, dass eine mütterliche postpartale Depression vom Säugling mit der Entwicklung hyperaktiven Verhaltens beantwortet werden kann. Timimi wies neuerdings einmal wieder auf die Rolle kultureller und sozialer Faktoren bei der Entstehung und vor allem Qualifizierung von Verhaltensproblemen als medizinische Krankheitsentitäten und damit behandlungsbedürftige Störungen hin und machte damit auf die Rolle derartiger Faktoren für die Wahrnehmung und Interpretation dieser Phänomene aufmerksam.

Die konkurrierenden, zum Teil in heftigem Widerstreit stehenden Auffassungen, zeigen zumindest eines: Es handelt sich bei der Aufmerksamkeitsdefizithyperaktivitätsstörung um eine komplexe vielschichtige Problematik, bei der man weder dem Phänomen, noch den betroffenen Kindern und Familien gerecht wird, wenn man einfache Reduktionen auf diese oder jene bevorzugte Theorie vornimmt. Dies hat jenseits manchmal ideologisch gefärbter Auseinandersetzungen erhebliche klinische Konsequenzen: Erstens bedarf eine derartige Symptomatik einer umfassenden Diagnostik und zweitens ist auf dieser Grundlage eine individuell zugeschnittene Therapie erforderlich. Dem tragen die Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik Rechnung, wenn sie eine umfassende Diagnostik unter Berücksichtigung somatischer, familiärer und emotionaler Faktoren fordern und konstatieren, dass in der Regel eine multimodale Behandlung durchzuführen sei.

Tab. 1 Ätiologische Faktoren bei der Entstehung der ADHS
• Temperamentsfaktoren
• genetische Polymorphismen
• Schwangerschafts- und Geburtskomplikationen
• erniedrigtes Geburtsgewicht
• pränatale Alkohol-, Benzodiazepin- oder Nikotinexposition
• Infektionen und Toxine, insbesondere Schwermetallexposition
• ZNS-Erkrankungen und Verletzungen
• ungünstige psychosoziale Bedingungen
• frühkindliche Traumatisierung, schwere Deprivation, Misshandlung
• Fernsehkonsum vor dem 3. Lebensjahr
• in Einzelfällen evtl. auch atopische Disposition (umstritten)

Ätiologie und Pathogenese

Eine Auflistung ätiologischer Faktoren findet sich in Tabelle 1. Zu berücksichtigen ist dabei, dass diese Faktoren im Sinne einer Ergänzungsreihe verstanden werden können und es zu bisher nicht genau geklärten Wechselwirkungen zwischen genetischen, somatischen und psychosozialen Faktoren kommt. Möglicherweise ist die ADHS-Symptomatik als gemeinsame Endstrecke verschiedenster, im Einzelfall sehr unterschiedlich gewichteter Beeinträchtigungen anzusehen.

Man hat es daher in der klinischen Praxis häufig mit einem Zusammenspiel unterschiedlicher ätiologischer Faktoren zu tun, ohne dass diese an dem Punkt, an dem das Kind in die Sprechstunde kommt, immer genau in ihrer Wertigkeit bestimmt werden können, dies umsoweniger, als die Wechselwirkung zwischen diesen Faktoren und die oben erwähnte gegenseitige Beeinflussung von Hirnreifung, individuellen, familiären und außerfamiliären Beziehungs- und Interaktionsmustern und der Organisation und Verfestigung neuronaler Netzwerke beispielsweise im Sinne einer angeborenen und/oder somatisch oder beziehungsdynamisch erworbenen Bereitschaft zur Hyperexzitabilität bisher nur in Grundzügen erforscht sind.

In der klinischen Praxis kann man sich entweder entlang einer korrekten Anwendung der Bestimmungen der lCD-10 auf den Standpunkt stellen, dass man nur dann eine hyperkinetische Störung oder eine ADHS diagnostiziert, wenn Belege dafür vorhanden sind, dass die Störung sehr früh begann und keine wesentlichen emotionalen Belastungen vorhanden sind oder waren, die die Auffälligkeiten erklären könnten. Man kann sich andererseits aber auch ganz pragmatisch auf den heute weithin bevorzugten Standpunkt stellen, die Diagnose unter Außerachtlassen der Einschränkungen der lCD-10 und in Anlehnung an DSM-IV ausschließlich phänomenologisch an der zu beobachtenden Symptomatik zu orientieren.
Man wird damit allerdings, wie es heute häufig geschieht, eine Ausweitung der Diagnose vornehmen und mit einem Sammelsurium heterogener Belastungsfaktoren und ätiologischer und pathogenetischer Einflussfaktoren zu rechnen haben, die im Einzelfall sehr unterschiedliches Gewicht haben dürften.

Symptomatologie und Diagnostik

Die Kernsymptome der ADHS sind Unaufmerksamkeit, Überaktivität und Impulsivität, wobei nach lCD-10 sowohl Unaufmerksamkeit als auch Überaktivität vorliegen müssen, während DSM-IV den vorwiegend hyperaktiv-impulsiven Typ und den vorwiegend unaufmerksamen Typ sowie einen kombinierten Typ unterscheidet und damit die Hyperaktivität nicht als notwendiges Symptom ansieht. Darüber hinaus werden von der lCD-10 ein Beginn vor dem 6. Lebensjahr und ein Auftreten in mindestens zwei Lebensbereichen gefordert.

Charakteristische Merkmale der drei Leitsymptome sind in Tabelle 2 aufgeführt.

Tab. 2 Leitsymptome der ADHS (jeweils extrem ausgeprägt im Verhältnis zu gleichaltrigen Kindern)
Unaufmerksamkeit (Aufmerksamkeitsstörung, Ablenkbarkeit)
• Mangel an Ausdauer und Konzentration, Abbruch bei Beschäftigungen,
• häufiger Wechsel von einer Tätigkeit zur anderen, Ablenkbarkeit (durch externe Stimuli),
• Unfähigkeit, die Aufmerksamkeit zu teilen,
• mangelnde Aufmerksamkeit für Details,
• hört oft nicht zu,
• verliert oft Dinge,
• ist vergesslich
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Überaktivität (Hyperaktivität, motorische Unruhe)
• Zappelphilipp.
• desorganisierte, überschießende Aktivität,
• kann nicht still sitzen, steht oft auf,
• exzessives Rennen oder herumklettern,
• ausgeprägte Redseligkeit, Lärmen, Schwierigkeiten still zu sitzen
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Impulsivität
• Mangel an normaler Vorsicht und Zurückhaltung,
• Unfallneigung,
• Regelverletzungen an Impulsivität,
• Distanzlosigkeit gegenüber Erwachsenen,
• platzt mit der Antwort heraus, bevor die Frage beendet ist,
• geht nicht auf andere ein,
• kann nicht warten, bis er/sie an der Reihe ist (im Spiel, in Gruppen)

Hinzu treten häufig weitere komorbide Symptome, deren Vielzahl teilweise zu Listen von über 100 Symptomen zusammengefasst wurde. Besonders problematisch ist eine gleichzeitig bestehende Störung des Sozialverhaltens, da diese die Prognose deutlich verschlechtert. Dissoziale Entwicklungen und Substanzmissbrauch sind vor allem bei einer Kombination von ADHS und einer Störung des Sozialverhaltens deutlich häufiger zu erwarten. In ähnliche Richtung weisen aggressive Störungen. Auf der anderen Seite führt die Dauerbelastung der Beziehungsinteraktionen im familiären und außerfamiliären Umfeld, die zu einem regelrechten Circulus vitiosus von Ablehnung, Sanktionen, Schulversagen, oppositionellem Verhalten oder Sich-negativ-in-Szene-Setzen und erneuten Sanktionen und sozialer Ausgrenzung führen kann, fast regelhaft zu niedrigem Selbstwertgefühl, negativem Selbstbild und sozialer Isolation sowie, häufiger bei Mädchen, zu ängstlichen und depressiven Symptomen. Diesen sekundären Symptomen kommt erhebliche, oft die entscheidende prognostische Bedeutung zu. Sie belasten die soziale Integration und das familiäre Beziehungsgefüge in vielen Fällen weit stärker als die Primärsymptome. Auch dies unterstreicht die Notwendigkeit einer umfassenden und kompetenten diagnostischen Abklärung. Nur so kann verhindert werden, dass eine ADHS diagnostiziert wird und die erwähnten komorbiden Störungen unerkannt und damit unbehandelt bleiben oder gar fälschlicherweise deren Symptome einer reinen Aufmerksamkeitsstörung zugeschrieben werden, was leider immer wieder zu desaströsen Verläufen führt.

Eine umfassende Diagnostik ermöglicht nicht nur eine Einschätzung des häufig komplexen Störungsbildes, sondern ist auch Voraussetzung für eine adäquate Planung der Behandlung. Das diagnostische Vorgehen ist in Tabelle 3 dargestellt, die Differenzialdiagnose findet sich in Tabelle 4.

Tab. 3 Diagnostik bei ADHS
Exploration der Familie und Exploration und Untersuchung des Patienten hinsichtlich:
• Auftreten, Variabilität der Leitsvmptome,
• ungünstiger Temperamentsmerkmale im Säuglingsalter und Beginn der Störung,
• Verlauf der Symptomatik
• psychosozialer und emotionaler Belastungsfokforen,
• Vorhandensein emotionaler oder anderer Störungen
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Informationen von Kindergarten oder Schule hinsichtlich:
• Einschätzung, Häufigkeit, Intensität und Variabilität der Symptomatik
• gegebenenfalls Lern- und Leistungsstörungen,
• Hinweisen auf psychosoziale Belastungen
Ergänzend kann ein Fremdbeurteilungsbogen (z. B. FBB-HKS), der jeweils von Eltern und Lehrern ausgefüllt werden kann, vor allem im Lehrerurteil wertvolle Zusatzinformationen liefern.
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Intelligenz, Entwicklungs- und Leistungsdiagnostik
• In der Regel ist eine zumindest orientierende Intelligenzdiagnostik erforderlich, um Überforderungen oder Unterforderungen auszuschließen.
• Bei Hinweisen auf Teilleistungsstörungen oder sonstige Leistungsproblemen ist eine umfassende Leistungsdiagnostik notwendig.
• Bei Vorschulkindern ist eine umfassende Entwicklungsdiagnostik vor allem auch der psychosozialen Entwicklung, erforderlich.
weitere testpsychologische Diagnostik
• Ergänzend können testpsychologische Untersuchungen zur Aufmerksamkeit (z B. TAP, Aufmerksamkeitsbelastungstest) zusätzliche Hinweise geben. Das testpsychologische Ergebnis darf niemals allein zur Stellung der Diagnose verwendet werden.
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somatische Diagnostik
• neurologische Untersuchung zur Abklärung von Beeinträchtigungen,
• gegebenenfalls EEG- bzw. MRT-Untersuchung, wenn Hinweise auf eine hirnorganische Komponente oder auf ein Anfallsleiden vorhanden sind, EEG-Untersuchung insbesondere dann, wenn eine medikamentöse Behandlung mit Amphetaminen geplant
• bei Planung einer medikamentösen Behandlung allgemeine körperliche Untersuchung u. o. im Hinblick auf mögliche Kontraindikationen und unerwünschte Wirkungen (z.B. Wachstumsverzögerung)


Tab. 4 Differenzialdiagnose bei ADHS
Eine Vielzahl kinderpsychiatrischer Störungen muss differenzialdiagnostisch oder als komorbide Störung Berücksichtigung finden, gegebenenfalls diagnostiziert und behandelt werden, insbesondere:
• Störungen des Sozialverhaltens,
• lntelligenzminderung,
• tiefgreifende Entwicklungsstörungen,
• Borderline- Persönlichkeitsstörung,
• Depression,
• Angststörungen,
• Schizophrenie oder manische Episoden,
• Medikamenteneffekte,
• primäre organische oder neurologische Störungen,
• schwere familiäre Belastungen, Misshandlungen, Deprivation, Vernachlässigung.

[…]

Therapie
[…]

Weitgehend konsensfähig scheint derzeit zu sein, dass
• eine medikamentöse Behandlung bei strenger Indikationsstellung und erheblichen durch die Symptomatik hervorgerufenen psychosozialen Beeinträchtigungen indiziert ist;
• eine alleinige medikamentöse Behandlung in der Regel nicht als adäquat anzusehen ist, sondern eine multimodale Behandlung erfolgen sollte;
• nach derzeitigem Kenntnisstand zwar mögliche Nebenwirkungen vorhanden sind und entsprechend kontrolliert werden müssen, aber nicht als derart gravierend erscheinen, dass sie eine medikamentöse Behandlung prinzipiell infrage stellen würden;
• die Befürchtung, dass es wegen des Suchtpotenzials von Amphetaminen zu Abhängigkeitserkrankungen kommen könnte zwar im Einzelfall berechtigt ist, im statistischen Mittel aber dies mehr als ausgeglichen wird durch eine deutliche Verringerung des Risikos einer Suchtentwicklung gegenüber Patienten, die nicht behandelt werden;
• Auslassversuche einmal pro Jahr zur Kontrolle der Wirksamkeit empfohlen werden.

[…]

Unverzichtbar ist eine Elternberatung nicht nur hinsichtlich der Erkrankung selbst, die heute den meisten Eltern bekannt sein dürfte, sondern vor allem auch hinsichtlich der besonderen Erziehungsanforderungen, die Kinder mit ADHS benötigen. Häufig geraten Kind und Eltern in Interaktionszirkel, die von Erregung, heftigen negativen Affekten und gegenseitigen Beschuldigungen gekennzeichnet sind und sich immer weiter verfestigen, wobei Eltern und Kind immer verzweifelter werden und sich missverstanden fühlen. Der besonders große Bedarf dieser Kinder nach Halt gebenden, klaren und nachvollziehbaren grenzsetzenden Strukturen geht im Zuge dessen oft unter. Eltern und Kind schwanken zwischen wütenden Beschuldigungen und negativem Selbsterleben. Es kann in dieser Situation eine große Hilfe sein, Eltern in dieser Hinsicht zu beraten und ihnen dabei zu helfen, wieder anders mit ihrem Kind umzugehen. Dabei steht die Unterstützung strukturierender und Halt gebender Funktionen, wie auch einer fördernden und zugewandten Beziehung im Vordergrund. Dies kann sowohl in der Einzeltherapie als auch über mittlerweile entwickelte Gruppenprogramme für Eltern umgesetzt werden.

Je nach Störungsbild und zusätzlicher Symptomatik bzw. Komorbidität müssen entsprechende therapeutische Angebote eingerichtet werden. Verhaltenstherapeutische Interventionen arbeiten vor allem mit Selbstinstruktions- und Selbstmanagementtrainings, wobei sie meist parallel sehr stark auf Interventionen in der Familie und in der Schule setzen. Die Einbeziehung der Eltern in diese Behandlung soll die Generalisierung auf die häusliche Situation unterstützen. Generell wird als Problem verhaltenstherapeutischer Interventionen angegeben, dass die Übertragbarkeit der in der Therapiesituation erlernten Verhaltensweisen in die Alltagsrealität oft unzureichend funktioniert. Daher haben sich in den letzten Jahren die Hoffnungen auf sogenannte Sommercamps gerichtet, bei denen Kinder in quasi natürlicher Umgebung lernen können, sich anders zu verhalten. Als Vorteil wird insbesondere auch angesehen, dass sie in einer Gruppe von Kindern sind, die ähnliche Probleme haben und sich insofern einmal nicht als Außenseiter fühlen müssen.

Familientherapeutische Interventionen haben primär sehr stark die familiäre Interaktion und die Funktion des auffälligen Verhaltens im familiären oder weiteren sozialen System im Auge und legen einen Schwerpunkt insbesondere auf Funktionalität und Dysfunktionalität der damit verknüpften Beziehungsgestaltung. Sie legen ihr Augenmerk daher naturgemäß vor allem auch auf die sekundären Verwerfungen in der familiären Kommunikation.

Psychoanalytisch orientierte Therapien setzen vor allem an der inneren Konfliktdynamik des Kindes an und arbeiten mit dem Kind und der Familie an einer Stabilisierung „väterlich“ grenzsetzender Strukturen, die einen sicheren Rahmen für die Entwicklung des Kindes bieten. Sie verstehen die Unruhe und Aufmerksamkeitsstörung auch vor dem Hintergrund bedrohlicher, nicht verarbeiteter und daher abgewehrter Ängste und Konflikte, als körperlichen Ausdruck der inneren Beunruhigung. Sie eignen sich besonders für die Bearbeitung der häufig mit einer ADHS einhergehenden Selbstwertproblematik, die unter Umständen mithilfe narzisstischer Größenfantasien abgewehrt wird, und bei der Behandlung komorbider emotionaler Störungen. Sie zielen auf die Stärkung und Entwicklung selbstregulativer Funktionen und affektiver Wahrnehmungs-, Steuerungs- und Verarbeitungskapazitäten anstelle einer motorischen Abfuhr der Affekte und damit auf eine bessere psychische Integration. Ihre Wirksamkeit hinsichtlich der Primärsymptomatik Aufmerksamkeitsstörung und Hyperaktivität wird kontrovers diskutiert. Schwere Fälle können von einer Kombination mit einer medikamentösen Behandlung profitieren, diese beeinträchtigt aber möglicherweise die Phantasietätigkeit des Kindes, die für die Entwicklung innerer konfliktlösender Fähigkeiten wichtig erscheint.

Schließlich wird man bei häufig mit ADHS verknüpften Teilleistungsstörungen, etwa im motorischen Bereich oder in Form vorwiegend sprachlicher Teilleistungsstörungen, abzuwägen haben, ob nicht zunächst eine Förderung und Stabilisierung in diesem Bereich, etwa durch Ergotherapie, krankengymnastische Übungsbehandlung oder spezifische Lernförderung schon eine gewisse Entlastung mit sich bringen kann. Zu warnen ist vor dem Missverstehen multimodaler Therapien im Sinne dessen, dass jeder Tag der Woche mit einer anderen Form der Therapie ausgefüllt werde.

Abschließend sei noch einmal darauf hingewiesen, dass eine umfassende Diagnostik zwar eine sehr hohe Expertise erfordert und einen außerordentlich hohen Aufwand mit sich bringt, dass aber andererseits nur so eine adäquate Einschätzung der häufig komplexen Problematik mit all ihren Facetten möglich ist und der Komplexität der Störung entsprechend eine angemessene Therapie geplant und eingeleitet werden kann. Eine rasche und alleinige Verordnung von Methylphenidat, gar auf der Grundlage der Angaben der Eltern, dass das Kind hypermotorisch sei und sich nicht konzentrieren könne, sozusagen ex juvantibus, ist heutzutage als obsolet anzusehen. Abgesehen davon wird man damit nicht nur den Standards heutiger wissenschaftlicher Erkenntnisse und möglicher therapeutischer Interventionen nicht gerecht, sondern lässt auch die betroffenen Familien und ihre Kinder mit ihrer Problematik im Grunde allein, indem man das Problem sozusagen auf den kleinsten gemeinsamen Nenner reduziert: ein Transmitterproblem und dessen medikamentöse Beeinflussung. Die Kinder und ihre Familien haben ein Recht darauf, von uns Experten umfassend beraten und behandelt zu werden und sie sind in der Regel sehr froh darüber, wenn man sie in all ihren Problemen, auch den familiären und zwischenmenschlichen Schwierigkeiten, ernst nimmt, berät und ihnen Hilfestellung gibt, anders mit ihrer belasteten und belastenden Situation umzugehen.

Michael Günter in Kinder- und Jugendmedizin 1/2008